© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/08 28. März 2008

Verlust der politischen Unschuld
Tagung des Roten Kreuzes: Neue Herausforderungen angesichts von asymmetrischer Kriegführung, Terrorismus und "Cyberwar"
Günther Gillessen

Die Grundregel der Rot-Kreuz-Konventionen ist so einfach, daß man sie Kindern erklären kann: Erstens ist verboten, kriegerische Gewalt gegen Wehrlose zu gebrauchen, und zweitens, den Widerstand des Gegners mit einem Übermaß an Gewalt, Leiden und Zerstörungen zu brechen. Wehrlos sind alle, die sich entweder gar nicht am Kampfe beteiligen, gemeinhin "die Zivilbevölkerung", oder nicht länger daran beteiligen können, wie verwundete, kapitulierende oder gefangengenommene Kämpfer. Wer nicht oder nicht länger gegen eine Kriegspartei kämpft, ist von dieser sogar zu schützen.

Alle Rot-Kreuz-Abkommen sind aus diesen Grundsätzen entwickelt worden. Die Regeln des humanitären Völkerrechts schützen Sanitätsfahrzeuge und Krankenhäuser, friedliche Wohnviertel, privates Eigentum. Die natürliche Umwelt soll geschont, die Wasserversorgung soll gewährleistet, die Zerstörung gefährlicher Anlagen (Kernkraftwerke!) vermieden und bei Angriffen auf die Versorgungslinien und die Bewegungsfreiheit der feindlichen Streitkräfte die Infrastruktur des Landes nicht unterschiedslos zerstört werden. Kultstätten und Kulturgüter eines Volkes sind zu schonen, solange der Feind sie nicht als "Schutzschilde" für seine Kämpfer mißbraucht.

Wesentlich ist die Unterscheidung zwischen Kämpfern und Nichtkämpfern. Doch die Differenzierung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten kann sich in den neueren Kriegsformen als vertrackt erweisen. So schien es im Kalten Krieg nötig, gegen die Bedrohung durch Atomwaffen eine "Abschreckung" mit Atomwaffen herzustellen, sich also vorzubehalten, sie einzusetzen - mindestens ein begrifflich-formaler Verstoß gegen die Grundregel, Waffen nicht rücksichts- und unterschiedslos einzusetzen.

Die Waffentechnik überholt sich ständig, und mit ihr ändern sich die Möglichkeiten der Kriegführung und die Tiefe des Gefechtsfeldes. Ein unbemanntes Flugzeug, das eine afghanische Provinz absucht, wird kaum zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten unterscheiden können. Der Spezialist aber, der die "Drohne" steuert, ihre Bilder auswertet, sie als Bombe ins Ziel steuert, das könnte ein Zivilangestellter in einer US-Operationszentrale in Maryland sein. Ist er "Kombattant"?

Der ersten Genfer Konvention von 1864 folgten mehrere Neufassungen und Ergänzungen. Eines der Probleme liegt bereits darin, daß einer Ansammlung von Detailregelungen die Tendenz innewohnt, das leitende Prinzip zu verdunkeln - nach dem Motto, was nicht ausdrücklich verboten sei, könne als erlaubt gelten.

1977 gab es zwei wichtige Zusatzprotokolle zu den Genfer Konventionen von 1949. Sie verstärkten den völkerrechtlichen Schutz der Zivilbevölkerung. Die Staatengemeinschaft baute ihn für den Fall eines "internationalen Konfliktes" (Zusatzprotokoll I) recht deutlich aus. Zu entsprechend starken Regelungen im Falle "nicht-internationaler Konflikte" (Bürgerkriegen, Rebellionen, Sezessionen, ethnischen Kämpfen) ließ sich im Protokoll II jedoch nicht bewegen. Dies ist mittlerweile aber die häufigste Form des Krieges geworden.

Drei Jahrzehnte nach den Zusatzprotokollen sind immer noch nicht alle wichtigen Staaten beigetreten. Abseits stehen Indien und Pakistan, Indonesien, Iran, Irak und Israel, Malaysia, Burma, Thailand, Marokko - und der EU-Kandidat Türkei sowie die USA. Es sind Staaten mit offenen Grenzfragen oder ethnischen Problemen - oder eben eine Supermacht, die zugleich die unerläßliche Welt-Ordnungsmacht ist. Die US-Amerikaner wollen sich vorsichtshalber Optionen der Gewaltanwendung offenhalten, die die Europäer lieber schließen wollen. Beide kommen aufgrund der unübersichtlichen Vielfältigkeit des modernen Kriegsbildes zu entgegengesetzten Schlüssen.

Es waren solche Fragen, die kürzlich auf der diesjährigen Konferenz der Justitiare und Konventionsbeauftragten des Deutschen Roten Kreuzes in Bad Mergentheim mit Juristen der Bundeswehr, des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Genf und der Nato besprochen wurden.

Einer der Beiträge umriß die schier unermeßlichen Möglichkeiten elektronischer Kriegführung gegen die Steuerungssysteme von Lenkwaffen, zur Störung oder gar Fälschung elektronischer Aufklärungsergebnisse, zur Unterbrechung der Energieversorgung, Störung von Telefonzentralen, des Bank- und Finanzwesens, jeglicher Verkehrsführung und Navigation zu Wasser, Land und Luft, eigentlich der gesamten Infrastruktur eines Landes.

Alle diese Möglichkeiten stehen bei entsprechendem Aufwand auch terroristischen Organisationen offen. Freilich wurde festgestellt, daß alle derartigen Möglichkeiten anonymer elektronischer Kriegführung aus dem Internet durchaus einzelnen Verboten der Zusatzprotokolle von 1977 zugeordnet werden können, es also ihretwegen keines neuen Protokolls bedürfe.

Zu entgegengesetzten Ergebnissen kamen Vorträge und Diskussionsbeiträge, die sich mit den neuen Formen des "asymmetrischen" Krieges zwischen regulären Streitkräften und irregulären Kämpfern im Schutz der Anonymität der Zivilbevölkerung beschäftigten  oder mit aus dritten Ländern eingereisten Terroristen. Ein Vertreter des deutschen Verteidigungsministeriums zeigte sich tief besorgt über die Konflikte, die entstehen, wenn Soldaten in einer internationalen "Friedensmission", also in einer neutralen Rolle und entsprechend dann auch als "Nicht-Kombattanten" in Erscheinung treten.

Werden sie plötzlich durch Angriffe aus dem Hinterhalt zur Selbstverteidigung gezwungen und anschließend auch zu ausgreifender, vorsorglicher Selbstsicherung, bringt sie das in die Rolle einer Besatzungsmacht und macht sie zu Kombattanten in einem asymmetrischen, "schmutzigen" Krieg. Hier wurde die Zwiespältigkeit humanitärer "Friedensmissionen" durch Soldaten in fremden Kulturen sichtbar.

Man erinnert sich an die Warnungen des langjährigen Präsidenten des Roten Kreuz (IKRK) in Genf, Cornelio Sommaruga, in den neunziger Jahren vor "humanitären Interventionen". Soldaten signalisieren kriegerische Gewalt. Auch wenn Ordnung gemeint ist, handelt es sich um staatliche Gewalt. Humanitäre Hilfe aber verliert ihre politische Unschuld, wenn sie unter militärischer Bedeckung geleistet wird.

 

Prof. Dr. Günther Gillessen leitete an der Universität Mainz das Journalistische Seminar und war politischer Redakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".

Foto: Internationale Rot-Kreuz-Einsätze: Schwieriger gewordene Differenzierung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten

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