© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/08 28. März 2008

Vom großen in den kleinen Vielvölkerstaat
Analysen zu Minderheitenfragen in der Tschechoslowakei zwischen 1918 und 1938 auf einem Seminar in Bad Kissingen
Ekkehard Schultz

Die Fragen des Zusammenlebens verschiedener Völker auf dem Territorium eines gemeinsamen Staates und des generellen Umgangs mit nationalen, religiösen und kulturellen Minderheiten gewinnen weiter an politischer Bedeutung. Egal ob bei der Gründung einer eigenständigen Republik Kosovo oder der aktuellen Lage im Irak - Lösungen bezüglich der Grundsätze für Minoritäten in neuen Nationalstaaten sind gefragt, um Konflikte zu vermeiden. In diesem Sinne hat  die Geschichte Böhmens und Mährens in Alt-Österreich und der ehemaligen Tschechoslowakei als Beispiel für einen ungelösten Minderheitenkonflikt aktuelle Bedeutung. Deshalb stand dieser Komplex im Zentrum des Seminars "Das Zusammenleben der Völker in der Zwischenkriegszeit in der Tschechoslowakei" vom 22. bis 24. Februar auf dem Heiligenhof in Bad Kissingen.

Rudolf Grulich, seit 1988 wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Kirchengeschichte von Böhmen, Mähren und Schlesien in Königstein/Taunus, widmete sich in seinem Referat "Kirche und Volkstum in den böhmischen Ländern im 19. und 20. Jahrhundert" vor allem der Frage, welche Grundsatzposition die Kirche für das Zusammenleben vertreten habe. Vieles sei dabei leider bis heute kaum erforscht geblieben: Bekannt sei der Versuch der Sozialdemokraten in Alt-Österreich, mit Hilfe des Brünner Nationalitätenprogrammes von 1899 eine Lösung für die sich entwickelnden starken nationalen Spannungen zu finden. Kaum bekannt sei dagegen, daß es auch zahlreiche detaillierte Vorschläge von christlicher Seite auf dem gleichen Gebiet gab, so Grulich. 

Eine wichtige Klärung der Kirche zu Volkstum und Minderheiten sei dabei bereits im Laterankonzil von 1215 erfolgt. Dort wurde verlangt, daß in den einzelnen Diözesen und Dekanaten Priester eingesetzt werden sollten, welche nicht nur die Sprache der Mehrheitsbevölkerung, sondern auch die Sprache der Minderheit verstehen - und dies unabhängig davon, daß die Predigt im Regelfall in Latein erfolgte. Tatsächlich war dies schon deshalb sinnvoll, weil die meisten Diözesen national stark gemischt waren. So gab es damals in der weit nach Lothringen reichenden Diözese Trier eine vergleichbare Anzahl von Gläubigen mit deutscher und französischer Sprache. Deshalb beschloß das Konzil, daß es eine prinzipielle Verpflichtung zu Gottesdiensten für alle Minderheiten gäbe.

Dieser Grundsatz galt seitdem auch in den Bistümern und Diözesen Böhmens und Mährens. Im 10. Jahrhundert war das Bistum Prag entstanden. 1196 wurde das Bistum Troppau gegründet. Erst später erfolgte die Bildung das Bistum Leitmeritz, welches bis 1945 hier das einzige Bistum darstellte, in dem eine deutsche Mehrheit (etwa zwei Drittel der Gläubigen) existierte. Die Kirche wollte mit diesem Prinzip Konflikte zwischen den Volksgruppen verhindern. Ebenso sollten die Gläubigen einer Region nicht durch politische Veränderungen der Grenzen und Staaten voneinander getrennt werden. So blieben die alten Bistümer Prag und Breslau auch nach der Annexion Schlesiens durch Friedrich II. in ihrer herkömmlichen Form erhalten.

Die Bildung der Tschechoslowakei im Herbst 1918 aus einem Teil der ehemaligen Habsburgermonarchie verkleinerte nicht die nationalen Spannungen, sondern verschärfte sie weiter. Davon wurden auch Teile der Kirche stark beeinflußt, die sich noch bis in diese Zeit weitestgehend davon leiten ließ, daß die Bewahrung der eigenen Kultur ein wichtiges "Werk eines jeden Christen" sei. So betätigte sich bereits 1938 der katholische Priester Jan Schrammek aus dem Bistum Brünn als Ideengeber für die späteren Vertreibungspläne von Edvard Beneš. Führende Mitglieder der katholischen Kirche zeigten dann auch im Zuge der Vertreibungen Spuren einer "starken Verblendung", betonte Grulich.

Um so deutlicher hebe sich davon die Kritik vom Vatikan an der Vertreibung ab. So kam Papst Pius XII zu der Einschätzung, daß die Vertreibung der Sudetendeutschen wie auch anderer deutscher Volksgruppen aus Mitteleuropa Ähnlichkeiten mit den Taten der gerade erst im Nürnberger Prozeß verurteilten NS-Kriegsverbrecher habe. Wiederum hätten die Verantwortlichen Minderheiten aus politischen Erwägungen ihre nationale, religiöse und kulturelle Heimat genommen.

Auch Ortfried Kotzian, Direktor des Hauses der Deutschen Ostens in München, erinnerte daran, daß die Tschechoslowakei von Anfang an auf dem Irrglauben beruht habe, im Gegensatz zum alten Österreich ein Nationalstaat zu sein. Dabei habe es sich ebenso wie bei der alten Monarchie um einen Vielvölkerstaat gehandelt. Damit wurden auch die alten Probleme übernommen, war doch in Böhmen trotz zahlreicher Versuche seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts keine Verständigung auf einen nationalen Ausgleich erfolgt.

Zwar seien die demokratischen Voraussetzungen für eine friedliche Lösung dieses Problems auch nach 1918 grundsätzlich gegeben gewesen, so Kotzian. Doch echte Rezepte zur Lösung der Nationalitätenfrage gab es von Anfang an nicht; da dies insbesondere von dem herrschenden Staatsvolk, den Tschechen, nicht gewollt war.

Vielmehr setzten die Tschechen auf die alten Konzepte des 19. Jahrhunderts: Um eine Reduzierung der Minderheiten in der Tschechoslowakei zu erreichen, sollten Deutsche und Ungarn zu größeren Teilen assimiliert werden. Diesem Ziel diente die Schulgesetzgebung oder die Vergabe der Beamtenstellen. Natürlich erzeugte dies auf der anderen Seite die entsprechenden Gegenreaktionen. Und so dominierte schnell der Nationalismus auf allen Seiten; bei Tschechen, Sudetendeutschen, Ungarn und weiteren Minderheiten.

Kotzian erinnerte allerdings auch daran, daß die Ursachen für diese Entwicklung nicht nur innenpolitisch begründet waren. Die Gründung der Tschechoslowakei am Ende des Ersten Weltkrieges wäre ohne die massive Unterstützung durch die Entente kaum möglich gewesen. Auch die Bildung vieler anderer Länder und die Neugestaltung der politischen Landkarte Mittel- und Osteuropas beruhte auf den Prinzipien der westlichen Siegermächte. Dies sei besonderes auffällig bei der Festlegung der gemeinsamen Grenze zwischen der Tschechoslowakei und Rumänien gewesen, so Kotzian. Die Tschechoslowakei erhielt die Karpatho-Ukraine 1919 in St. Germain als "Geschenk", obwohl dort weder Tschechen noch Slowaken siedelten und dies allen Grundsätzen des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen widersprach. Unter solchen Voraussetzungen trügen für die weitestgehende Mißachtung von Minderheiten die Westmächte eine nicht unwesentliche Verantwortung. Nicht zuletzt vor diesem historischen Hintergrund tue sich das heutige Europa mit Volksgruppenrechten nach wie vor schwer, obwohl deutliche Fortschritte in den letzten Jahren nicht zu übersehen seien.

Foto: Völkervielfalt in der Tschechoslowakei 1919 bis 1938: Die Karpatho-Ukraine als Geschenk erhalten

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