© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/08 04. April 2008

Kein Schneeparadies im Himalaya
China: Der Westen verdrängt gern einige Wahrheiten über Tibet / Theokratie, Feudalsystem und "sprechendes Vieh"
Peter Kuntze

Tausende Tibeter sollen am vergangenen Wochenende erneut gegen die chinesische Politik demonstriert haben. Die Sicherheitskräfte hätten Teile der Provinzhauptstadt Lhasa abgeriegelt - das berichtete die tibetische Exil-Regierung. Die chinesischen Behörden nannten dies ein "Gerücht". In Lhasa sei die "öffentliche Ordnung zum Normalzustand zurückgekehrt", behauptete Regierungschef Wen Jiabao. Die staatlichen chinesischen Zeitungen berichteten von einem angeblichen Treffen der "Dalai-Lama-Clique" am 14. März, bei dem beschlossen worden sein soll, alle Klöster mit über 100 Mönchen zu mobilisieren. Lobsang Tenzin, Chef der exiltibetischen Regierung im indischen Dharmshala, solle gefordert haben, die Chance der Olympischen Spiele in Peking zu nutzen, um Fortschritte für Tibet und eine Rückkehr des Dalai Lama, des religiösen Oberhaupts der Tibeter, aus dem Exil zu erreichen.

Zuvor hatten die EU-Außenminister an Peking appelliert, einen "substantiellen und konstruktiven Dialog"  mit dem Dalai Lama zur Beilegung der Tibet-Krise aufzunehmen. Das chinesische Außenministerium konterte mit dem Argument, Tibet sei "eine innere Angelegenheit Chinas". Kein Land und keine internationale Organisation hätten das Recht, sich einzumischen. Die EU solle "nicht Salz in die Wunden der unschuldigen Opfer der Unruhen in Lhasa reiben".

Doch seit den jüngsten Unruhen in Tibet rollt im Westen auf politischer und medialer Ebene eine antichinesische Welle, die bei aller berechtigten Empörung wesentliche Fakten außer acht läßt. Auffallend ist, daß sich - vornehmlich in Deutschland - ausgerechnet jene für die Kultur einer bedrängten Ethnie einsetzen, die dem eigenen Volk jedes Recht auf eine nationale Leitkultur vehement absprechen. Im übrigen hat man noch von keiner der im Bundestag vertretenen Parteien jemals ein Wort der Sympathie für eine der nach Selbständigkeit strebenden nationalen Minderheiten in Europa gehört - seien es Schotten, Südtiroler, Katalanen, Basken oder Korsen.

Vorweg: Ja, es stimmt, daß durch die von Peking betriebene Massenzuwanderung von Han-Chinesen das tibetische Hochland zunehmend sinisiert wird. Es stimmt ebenfalls, daß Peking große von Tibetern besiedelte Landstriche seinen Provinzen Yunnan, Sichuan, Quinghai und Gansu zugeschlagen hat, so daß in dem 1965 zur "Autonomen Region Tibet" erklärten Restgebiet die Tibeter zur Minderheit im eigenen Land zu werden drohen. Richtig ist ferner, daß sich die alte tibetische Kultur im Niedergang befindet und wohl bald ein folkloristischer Restposten für Touristen sein wird.

Schuld daran ist jedoch weniger das - übrigens nicht nur in Tibet, sondern in ganz China - kulturrevolutionäre Wüten der Roten Garden, dem in den sechziger Jahren ungezählte Klöster und Tempel zum Opfer gefallen sind, schuld daran ist vielmehr der jähe Zusammenprall einer archaischen Kultur mit der Moderne, die vor rund fünf Jahrzehnten auch das bis dahin weitgehend verschlossene und isolierte "Dach der Welt" erfaßt hat.

Doch nachfolgende Tatsachen sollten bei der Beurteilung der Vorgänge in Tibet nicht unterschlagen werden: Ebenso wie die autonomen Regionen Xinjiang und Innere Mongolei sowie die ehemalige Inselprovinz Taiwan ist auch Tibet völkerrechtlich ein integraler Teil Chinas. Unter dieser Prämisse wurde die Volksrepublik 1971 Mitglied der Uno und nahm im Sicherheitsrat den Sitz als eines der fünf ständigen Mitglieder ein. Diesen Sitz hatte bis dahin mit Unterstützung der USA die Nationalregierung unter Tschiang Kai-schek okkupiert, die 1949 nach dem verlorenen Bürgerkrieg vom Festland auf die Insel Taiwan geflohen war, die sie zur "Republik China" erklärte.

Seit dem historischen Abstimmungssieg in der UN-Vollversammlung, der eine der schwersten diplomatischen Schlappen der USA markierte, gilt die kommunistische Regierung in Peking als die legitime Alleinvertreterin ganz Chinas. Jeder Staat, der mit ihr diplomatische Beziehungen unterhält, hat diesen Anspruch expressis verbis anerkannt. Wer direkt oder indirekt sezessionistische Bestrebungen in China ermuntert, verstößt daher gegen geltende völkerrechtliche Regeln und macht sich der Einmischung in innere Angelegenheiten eines fremden Landes schuldig.

Daß Angela Merkel Ende letzten Jahres den Dalai Lama wie einen Staatsgast im Bundeskanzleramt empfing, war somit ein klarer Verstoß gegen den von Deutschland offiziell akzeptierten Alleinvertretungsanspruch Chinas, auch wenn Berlin in der Presse die trotzige Bemerkung streuen ließ, die Kanzlerin lasse sich von niemandem vorschreiben, wen sie wo empfangen dürfe.

Die Verbindungen Chinas zu Tibet reichen zurück bis zur Tang-Zeit. Damals, 710 n. Chr., heiratete die Tang-Prinzessin Wen Cheng den tibetischen König. Unter der mongolischen Yuan-Dynastie (1271-1368) wurde Tibet als ein Teil Chinas steuer- und tributpflichtig. Während der Ming-Dynastie (1368-1644) gründete der Mönch Sangkampa die Gelugba-Sekte (Gelbmützen-Sekte), deren Oberhaupt später den Titel "Dalai Lama" annahm. Von 1644 bis 1911 regierte in China die Qing-Dynastie, der der fünfte Dalai Lama 1652 Treue gelobte. Alle folgenden Reinkarnationen des Dalai Lama wurden seitdem von der Zentralregierung Chinas bestätigt - bis heute.

Nach dem Sturz der Qing-Dynastie brach in Tibet 1912 ein antichinesischer Aufstand aus. Teile der Oberschicht mit dem 12. Dalai Lama an der Spitze riefen - ermuntert durch die USA und die Kolonialmacht Großbritannien - die Unabhängigkeit aus, die jedoch keine internationale Anerkennung fand. 1950 übernahm der jetzige, der 14. Dalai Lama mit fünfzehn Jahren als "Gottkönig" die Macht und sandte Vertreter der tibetischen Lokalregierung zu Verhandlungen nach Peking, die 1951 in einem Abkommen über die Wiedereingliederung Tibets ihren Abschluß fanden. Nach Pekinger Version inszenierte 1959 eine "reaktionäre Clique" der tibetischen Oberschicht einen Aufstand, der von der Volksbefreiungsarmee blutig niedergeschlagen wurde. Rund 100.000 Tibeter und der Dalai Lama flohen nach Indien ins Exil.

Vor 1959 war Tibet eine Theokratie auf der Grundlage eines mittelalterlichen Feudalsystems. Der Dalai Lama war als Chef der Lokalregierung gleichzeitig weltlicher und religiöser Herrscher. Die Leibeigenen, fast 90 Prozent der Bevölkerung, galten als "sprechendes Vieh". Adel und Klöster teilten sich in den Grundbesitz. Es gab weder öffentliche Schulen noch ein öffentliches Gesundheitswesen; die Mehrheit der Tibeter waren Analphabeten. Erst unter chinesischer Verwaltung wurden alle feudalen Privilegien des Adels und der Klöster aufgehoben. "Shangri-La", das sagenumwobene Schneeparadies im Himalaya, in dem friedliche und fromme Menschen fernab der Welt ein glückliches Leben führen, hat es nur in den Erzählungen des österreichischen Bergsteigers Heinrich Harrer gegeben - und in der Vorstellung naiver Tibet-Sympathisanten wie Richard Gere.

Foto: Tibetische Mönche demonstrieren gegen China: Sympathischer als Basken, Schotten und Südtiroler?

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