© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/08 04. April 2008

Höllenkreis der Selbstbezüge
Frank Castorf schiebt Brechts "Maßnahme" und Müllers "Mauser" ineinander
Harald Harzheim

Im Gesamtwerk Brechts ist "Die Maßnahme" (1930) der Ernstfall. Nirgendwo sonst hat er die Unterwerfung des Individuums unter die Partei so bedingungslos propagiert wie in diesem Opernlibretto, zu dem Hanns Eisler die Musik schrieb. Es erzählt die Geschichte von fünf Genossen, die kommunistisches Gedankengut von Moskau ins aufständische China bringen sollen. Einer begeht fatale Fehler, folgt seinem Mitleid anstatt der Parteistrategie. Die vier anderen liquidieren ihn. Zurück in Moskau fordern sie vom "Kontrollchor" eine Beurteilung ihres Handelns. Der segnet die Tötung des Genossen als rechtmäßig ab.

Brechts Lehrstück verweigert den Protagonisten weitgehend die Innenperspektive und damit eine nachvollziehbare Emotionalität. Das verleiht ihrem Handeln, dem Töten, eine kalte "Professionalität". Der Mord an dem Genossen geschieht in einer Beiläufigkeit, wie sie Brecht bereits in seinem frühen Splatterfilm "Mysterien eines Frisiersalons" (1923) präsentierte, wo ein Barbier vom Schlag des Sweeney Todd mehrere Kunden enthauptet. Was damals noch Spaßfaktor besaß, ist in der "Maßnahme" eiskalt ideologisch fundiert. Nur Eislers Musik mit ihrer Anlehnung an Johann Sebastian Bachs "Johannes-Passion" ergänzt die Propaganda des Kadavergehorsams um pathetische Tragik, setzt einen emotionalen Kontrapunkt.

Letzterer könnte vielleicht die Verwirrung erklären, auf die das Werk seinerzeit stieß. Brecht untersagte deshalb 1945 weitere Aufführungen, erklärte "Die Maßnahme" aber zugleich zum "Theater der Zukunft". Trotz des Verbots ließ es sich die RAF nicht nehmen, ihre Bekennerschreiben mit Zitaten aus diesem Werk theatralisch aufzuwerten.

Heiner Müller schrieb mit "Mauser" (1970) eine Kritik an der "Maßnahme" und am Brechtschen Lehrstück überhaupt. Hier fordert der Chor vom Genossen A, in seinen Tod einzuwilligen, da er der Revolution nicht mehr nützlich sei. Als Mitglied eines Exekutionskommandos hatte er zahllose "Feinde" der Partei mit der Mauserpistole liquidiert. Aber auch kernige Slogans wie "Das tägliche Brot der Revolution (...) ist der Tod ihrer Feinde, wissend, das Gras noch / müssen wir ausreißen, damit es grün bleibt" konnten das Mitleid nicht unterdrücken, als er den Angstschweiß auf dem Nacken seiner Opfer sah. So wurde er für die Revolution unbrauchbar und soll jetzt in die eigene Liquidierung einwilligen.

Anders als Brecht stellt Müllers Text dem legalisierten Revolutionsterror offenen Widerspruch entgegen, gibt dem Zweifel des A gleichviel Sprach-Raum wie dem Revolutionschor. Bei Aufführungen sollte das Publikum die Rolle des Chors lesen, was die emotionale Anteilnahme verstärkt hätte (aber kein Regisseur bislang realisierte). Natürlich wurde "Mauser" in der DDR verboten.

Jetzt inszenierte Frank Castorf beide Stücke, "Die Maßnahme" und "Mauser", im Rahmen der Volksbühnen-Opernserie im Doppelpack. Aber nicht nacheinander, sondern ineinander verschachtelt. Ausgangspunkt war laut Ankündigungstext die Frage: "Wo kommt das Recht zum Töten her, wo diese Pflicht zum Opfer im Namen der 'Sache'. Und warum ist mit Selbstmord­attentätern nicht zu reden?" Soviel vorab: Beide Fragen wird die Inszenierung nicht beantworten.

Es beginnt mit "Mauser". Auf einem Holzgerüst mit breitem Laufsteg sitzt der Angeklagte A (Hermann Beyer) und wird von einem dreiköpfigen Chor ins Verhör genommen. Schon bei der Antwort von A verläßt Castorf die Textvorlage, springt auf eine Metaebene: A erklärt, das Lehrstück sei heutzutage unmöglich, es gebe keinen Adressaten mehr. Das Theater drehe sich nur noch um sich selbst, während der Molotowcocktail das "letzte bürgerliche Bildungserlebnis" darstelle. Ein Wink mit dem Zaunpfahl, daß die Aufführung nicht ideologisches Morden, sondern die fragliche Legitimität des Theaters thematisiert. Womit die Regie sich wieder in den Höllenkreis der Selbstbezüge verlaufen hätte.

Unmittelbar nach diesem Auftakt erhebt sich der Chor, der bis dahin inkognito im Zuschauerraum saß, und singt die Eröffnung zur "Maßnahme" -  geleitet vom Dirigenten Marcus Crome, wie ein Parteiführer riesenhaft auf die Wand projiziert. Die Ankläger aus "Mauser" stehen plötzlich selbst im Verhör durch den Eisler-Chor. Jeder Kontrollchor wird seinerseits kontrolliert, und immer geht es dabei um Kopf und Kragen.

Castorf zieht "Die Maßnahme" zügig durch, verschärft durch alberne Verweise - so heißt der ermordete Genosse bei ihm Heiner - den Kontrast zwischen Sprechtext und Musik. Brechts Verfremdungseffekte, in der "Maßnahme" durch Theater-im-Theater erzielt, finden konsequente Fortführung im Schauspiel-Stil der Volksbühne, deren Darsteller bewußt "neben der Rolle" agieren. Brüllend komisch wird es, wenn die Verfremdung durch Konfrontation mit der Realität hervorgerufen wird: Die Darsteller verlassen das Theater, hetzen über den Rosa Luxemburg-Platz, verfolgt von einer Videokamera, die live in den Theatersaal überträgt. Dabei fällt der Dialogsatz "Die Massen sind auf der Straße" vor der völlig menschenleeren, nächtlichen Realkulisse.

Inszenierte Castorf "Die Maßnahme" noch als kurzweilige Trash-Version eines düsteren Agitprop-Juwels, so zieht er "Mauser" sadistisch in die Länge. Der Chor und A stehen nicht an einer Stelle, sondern wandern durch verschiedene Schauplätze. Wo A sich aufhält, folgt ihm der Chor oder wartet bereits auf ihn - wie ein lästiges Gewissen, das der Tschekist mit sich schleppt und ihn langsam in Richtung Tod treibt. Für diesen Chor ist "Sterben eine Arbeit", die mit dem Nichts belohnt wird.

Die Regie dehnt Müllers Kurzdrama auf zähe zwei Stunden, da helfen auch die assoziativ eingefügten Choreographien von Meg Stuart nichts.

Wie gesagt, über den Antrieb von Terroristen zur ideologisch fundierten Bluttat erfährt man an diesem Abend nichts. Nun sind beide Texte mit ihrem Mangel an Innenperspektive dafür auch kaum geeignet. Vielleicht sollte Castorf es mal mit einer Dramatisierung von Jonathan Littells "Die Wohlgesinnten" versuchen?

Weitere Aufführungen finden statt am 4. und 25. April sowie am 3., 23. und 31. Mai, jeweils um 19.30 Uhr, in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin-Mitte. Kartentelefon: 030 / 2 40 65-777      

Foto: Castorf-Inszenierung "Die Maßnahme/Mauser": Offene Fragen

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