© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/08 11. April 2008

Stunde der Buchhalter
Zur Eindämmung der Finanzkrise ist bilanztechnische Kreativität gefragt
Wilhelm Hankel

Das westliche Finanzsystem steht am Abgrund. Nicht die kleinen soliden Bankhäuser müssen saniert werden, sondern die großen führenden der Welt. In Deutschland sind es die bislang vom Staat geschützten (und genutzten) öffentlich-rechtlichen Landesbanken in Bayern, Sachsen und NRW oder die de facto verstaatlichte IKB. Die gefährlichste Finanzkrise seit dem "Schwarzen Freitag" 1929 droht zum Aus des westlichen "globalisierten" Kapitalismus zu führen. Ohne sein marktwirtschaftliches und staatsfreies Kredit- und Bankensystem verliert er sein erfolgversprechendes Markenlogo genauso wie ein Kommunismus ohne Politbüro und Wirtschaftslenkung. Noch keine zwei Jahrzehnte nach dem schmählichen Ende des einstigen Rivalen und scheinbaren Garanten einer schöneren und sozial gerechteren Welt droht dem triumphierenden Sieger nun dasselbe Los: als gewogen und zu leicht befunden im Orkus der Geschichte zu versinken.

Denn den Rettern fallen nur zwei Therapien ein, deren Folge- und nicht bloße Nebenwirkungen sich wie die fatale Wahl zwischen Cholera und Pest ausnehmen: Entweder die Schaltstellen zwischen Staaten und Kreditsystem, die Zentralbanken, verraten ihren Auftrag und ihre Existenzberechtigung - die Stabilität der Währungen zu sichern - und überschwemmen die Finanz- und Gütermärkte so lange mit frischem Geld, bis Überliquidität und Zinssenkung die bankrotten Bankhäuser wieder flottmachen - eine "Therapie", deren Erfolg schon deswegen zweifelhaft ist, weil nicht ausgeschlossen werden kann, daß die Inflationsfurcht die Zinsen hochtreibt statt wie erhofft senkt.

Oder die Zentralbanken halten sich strikt an ihren Auftrag (und ihre Statuten) und geben der Geldwertstabilität den Vorrang vor der Rettung der Geldhäuser - dann bleibt zwar das Geld einigermaßen stabil, aber viele Ein- und Anleger verlieren ihr Geld, und die Krise der Finanzmärkte eskaliert erbarmungslos zu einer der Staaten und ihrer Sozialsysteme. Und der Ausweg, wenn es denn einen gibt? Er liegt in der genauen Analyse des echten Kreditbedarfs der von der Insolvenz bedrohten Bankhäuser. Er resultiert aus zwei Faktoren: dem Marktverlauf und den von der Bankaufsicht vorgeschriebenen Regeln für Wertberichtigungen und Abschreibungen auf die durch die Krise notleidend gewordenen bzw. wertgeminderten Anlagen. Deswegen stellt sich die Frage: Wenn es schon unmöglich ist, die Entwicklung verfallender Märkte und die daraus resultierende Abwertung der früher finanzierten Anlagen zu stoppen (das immer neue Faulwerden und Einfrieren der für Schrotthypotheken herausgelegten und in Derivaten angelegten Kredite aufzuhalten bzw. zu beeinflussen), wie steht es dann mit diesen Regeln der Bankaufsicht für solche Wertberichtigungen und Kreditabschreibungen? Zwar entsprechen diese den geheiligten Grundsätzen der Bilanzwahrheit, des Gläubigerschutzes und des Konkursrechtes, die in den Handelsgesetzbüchern (so auch dem deutschen von 1897) verankert sind und erst kürzlich in den Übereinkünften von "Basel II" erneuert und beschworen wurden.

Dennoch muß gefragt werden, ob es nicht klüger wäre, diese Regeln für die Dauer der Finanzkrise zu lockern oder zeitweilig auszusetzen. Milliarden an neu anzumeldenden Buchverlusten und neu aufzubringenden Sanierungsgeldern könnten gespart, die Märkte beruhigt und drohende Inflationsgefahren abgewendet werden! Finanzmarktregeln sind dazu da, das System vor Schaden zu bewahren, nicht diesen zu steigern. Der doppelte Fehler der gegenwärtigen liegt darin, daß sie erstens nur der Sicherheit der Einzelinstitute gelten, daß sie zu "mikroökonomisch" konzipiert sind. Zwar muß das Publikum auch weiterhin vor dem Mißmanagement und spekulativen Leichtsinn der Bankmanager geschützt werden - aber nicht um den Preis seiner permanenten Verunsicherung. Doch weitaus gravierender ist, daß sie in einer Systemkrise wie der gegenwärtigen ihren Zweck verfehlen: Der Schaden, der bereits eingetreten ist, kann so nur vergrößert werden.

Die Anpassung der geltenden Bilanzregeln an den Krisenfall - das wäre ein realistischerer Ausweg aus der Krise als Josef Ackermanns Verzweiflungsruf nach dem Staat, den der Deutsche-Bank-Chef damit nur überfordert. Der an veralteten Sanitärvorschriften kränkelnde Kapitalismus könnte dadurch wirksam entlastet werden. Er könnte sich zwischen der Scylla der "Rettungsinflation" und der Charybdis des schmerzhaften Kollapses erfolgreich hindurchlavieren. Man gewönne Zeit, um jene Welt-Geldordnung zu schaffen, die die nächste Systemkrise verhindert.

Schieflagen einzelner Banken und Finanzinstitute wird es zwar immer geben. Doch sich wiederholende Existenzkrisen des Weltkapitalismus wären tödlich. Um diese zu verhindern, bedarf es weder des Geldes der Zentralbanken noch des Steuerzahlers - es liegt an den Regeln und am Augenmaß der Kreditpolizei. Nach der Krise könnten die alten Regeln wieder voll gelten. Für Kinder, die noch ins Brunnenloch fallen können, kann das Schutzgeländer nicht hoch genug sein. Für die, die man herausholen muß, gilt das nicht.

 

Prof. Dr. Wilhelm Hankel leitete unter Karl Schiller die Abteilung Geld und Kredit im Bundeswirtschaftsministerium.

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