© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/08 11. April 2008

CD: Neofolk
Märchenhaft
Dominik TiscN

eofolk war noch bis Mitte der neunziger Jahre mit den führenden Gruppen Current 93, Death In June und Sol Invictus eine fast ausschließlich britische Angelegenheit. Erst zu Beginn des neuen Jahrtausends entwickelte sich allmählich durch Formationen wie Orplid oder Forseti ein eigenständiger deutscher und durch Projekte wie Ain Soph ein eigenständiger italienischer Zweig, die ihre teils melancholische, teils mit heroisch-geschichtspessimistischem Gestus vorgetragene Folkweisen in Muttersprache darboten.

In Osteuropa bildeten sich zunächst in Ungarn Projekte, die im weitesten Sinne mit diesem Genre assoziiert wurden, doch auch in Rußland und in den baltischen Ländern begann sich die Kunde des Folk mit dem antimodernistischen Flair zu verbreiten. In diesen postkommunistischen Ländern entstanden bisweilen besonders abenteuerliche, "nationalbolschewistische" Ausprägungen des Stils. Neutral aus Moskau, mit die ersten Neofolk-Vertreter Rußlands, präsentierten sich von Anbeginn besonnener als viele ihrer Landsleute. Ihre ersten Aufnahmen - damals sollen sie musikalisch bedeutend ungestümer zu Werke gegangen sein - zirkulierten allein im russischen Untergrund, bis sie 2004 bei einem französischen Verlag ihr Debüt vorlegten. Anfang dieses Jahres schließlich nahm sich der Dresdener Musikverlag Eis & Licht der Russen an. Das Ergebnis "Serpents in the Dawn" besticht durch seine musikalische Reife, zunächst fällt jedoch der in diesem Genre eher ungewöhnliche musikalische Kosmopolitismus auf. Sänger Ash singt selten in Muttersprache, statt dessen ist ein völlig akzentfreies Englisch zu hören, dazu wird ein romantisch-fragiler, harmonischer und von klagenden Geigen, gezupften Akustikgitarren, Flöten und Cellotönen geprägter Neofolk kredenzt, der an die frühe britische Hochzeit dieser Musik erinnert.

Lyrisch paßt man sich dieser märchenhaften Stimmung an und beläßt es, neben einer Rudyard-Kipling-Vertonung, bei symbolistischen Andeutungen. Freilich hat diese starke Anlehnung an Albion auch Nachteile, doch bevor wirklich ein Gefühl von verpaßten Möglichkeiten entsteht, bricht sich doch immer mal wieder eine, schon sprichwörtlich gewordene russische Schwermut Bahn. "Luna", das letzte Stück, wird dann auf russisch dargeboten, und es ist zweifellos der Höhepunkt des Albums. Das Album lebt von dieser Spannung, einerseits der Orientierung an den europäischen Westen und dann immer die doch hörbare russische Herkunft Neutrals.

Seit wenigen Tagen ist von Neutral zudem eine Zusammenarbeit mit dem allseits bekannten oberösterreichischen Projekt Allerseelen und einer weiteren russischen Gruppe, die auf den unaussprechlichen Namen Otzepenevshiye hört, erhältlich. Hier zeigen sie ein komplett anderes Gesicht ihrer Musik. Die drei Projekte vertonen auf diesem Album auf deutsch neun Gedichte Georg Trakls, wobei Gerhard (Allerseelen) immer der Vortragende bleibt. Musikalisch hat man es hier nicht mehr mit Folklore zu tun, vielmehr unternahmen die drei Projekte den Versuch, mit grollenden Maschinengeräuschen, allerhand undefinierbaren Geräuschquellen oder auch einer etwas verstimmt klingenden Geige Trakls expressionistisches Werk auch musikalisch nachzuvollziehen. Neutral suchten sich dazu unter anderem sein "Verfall" (1913) aus. Zu einsamen Klaviertönen erklingt Gerhards unverkennbare Stimme: "Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern. Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen. Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern" - und man glaubt fast Trakl selbst zu hören. Empfehlung!

Neutral: Serpents In The Dawn, Eis und Licht, 2008, www.neofolk.de

Allerseelen/Neutral/Otzepenevshiye: Georg Trakl Umnachtung, Ewers Tonkunst, 2008, www.steinklang-records.at

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