© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/08 11. April 2008

Schutzzeichen
Politische Zeichenlehre XLVI: Tibet
Karlheinz Weissmann

Der politische Konflikt in Tibet hat wie jeder andere einen symbolpolitischen Aspekt. Die Furcht der Führung in Peking vor einer Separation des seit 1951 besetzten Gebietes äußert sich deshalb auch in der massiven Bestrafung derjenigen, die Symbole besitzen, die mit dem Verlangen nach Souveränität eines tibetischen Staates verknüpft sein könnten; wer ein Bild des Dalai Lama oder die tibetische Nationalflagge bei sich führt, muß mit Anklage, Verurteilung und mehrjähriger Inhaftierung rechnen.

Das erklärt weiter, warum die tibetische Nationalflagge praktisch nur von Exilgruppen verwendet wird, die sie bei ihren Demonstrationen zeigen oder - wie in der vergangenen Woche, als sie an zweihundert deutschen Rathäusern aufgezogen wurde - für Solidarität mit dem Freiheitskampf ihres Volkes werben. Dargestellt ist im unteren Drittel ein weißes Dreieck, das die schneebedeckten Berge des Landes bedeuten soll, die beiden weißen Löwen (mit grün abgesetzten Fellteilen und Mähnen) repräsentieren geistliche und weltliche Herrschaft, das runde, mehrfarbige Emblem, das sie mit der einen Pranke stützen, das buddhistische Prinzip unendlicher Ursache und Wirkung, das mit der anderen gehaltene "Juwel", aus dem eine dreiteilige Flamme schlägt, symbolisiert Buddha selbst sowie Dharma, also die Pflichten des Gläubigen, und Sangha, deren Gemeinschaft beziehungsweise die der Mönche (gelegentlich wird die Flamme auch als Stellvertretung von Körper, Sprache und Geist aufgefaßt).

Die goldene Sonne über dem Emblem wird als Glückszeichen gedeutet, die zwölf Strahlen, die rot und blau im Wechsel ihren Hintergrund bilden, stehen für die zwölf tibetischen Stämme; die Farbkombination rechnet man außerdem dem Schutzgott Mar Nag Nyi zu, der insbesondere die Flagge selbst bewahren soll, getrennt gilt das Rot für die männliche Gottheit Chhyo-kong, das Blau für die weibliche Sung-ma. Die goldene Einfassung des Flaggenbildes ist nicht ornamental, sondern steht für die "leuchtenden" Ideale des Buddhismus überhaupt.

Die Gestaltung der tibetischen Flagge soll auf einen Entwurf des 13. Dalai Lama vom Anfang des 20. Jahrhunderts zurückgehen. Ursache war die Notwendigkeit, formell eine Art moderner Staatlichkeit zu schaffen, nachdem Tibet zum Objekt imperialer Begehrlichkeiten geworden war und seine relative Unabhängigkeit nur mit britischer Unterstützung gewinnen konnte. Nach der Vertreibung der Chinesen wurde unter Anleitung ausländischer Instruktoren auch eine Nationalarmee geschaffen, für die man die Flagge 1913 zuerst verwendet hat.

Eine praktische Bedeutung darüber hinaus gewann sie kaum, was wohl auch erklärt, weshalb sie nicht den Prinzipien moderner politischer Symbolik - Einfachheit, Klarheit, Reproduzierbarkeit - genügt. Sie ähnelt mit ihrer überfrachteten, religiösen Zeichensprache eher mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Bannern Europas, die noch gar keinen Flaggencharakter hatten, sondern Fahnen, das heißt einmalige Stücke waren.

Ihnen haftete außerdem der uralte Charakter des Symbols als Schutzzeichen und als Emblem an, das göttliche Unterstützung sichern sollte. Daß die tibetische Nationalflagge noch an diese Funktionen erinnert, liegt aus verschiedenen Gründen nahe. Zum einen werden in den tibetischen Klöstern aufwendig gearbeitete Tuchbilder bewahrt, die man nur zu besonderen Anlässen zeigt oder wie Flaggen aufzieht. Darüber hinaus sind im ganzen Gebiet des Himalaya "Gebetsfahnen" verbreitet, die sich auf vielen Pässen und Berggipfeln finden und dem sehr weit zurückgehenden, eigentlich magischen Brauch entsprechen, aus religiösen Motiven ein Band zu knüpfen.

Die Gebetsfahnen zeigen die Farben Rot, Gelb, Weiß, Blau und Grün und sind oft mit dem tibetischen Mantra "Om mani padme hum" beschrieben, was verbürgen soll, daß das Glück aller fühlenden Wesen mit dem Wind in die Welt hinausgetragen werde; die Zahl Fünf spielt im tibetischen Buddhismus überhaupt eine zentrale Rolle, weil sie für die Himmelsrichtungen und das Zentrum steht, und auch das weist auf sehr frühe symbolische, im weiteren Sinn archetypische Vorstellungen zurück. 

Die JF-Serie "Politische Zeichenlehre" des Historikers Karlheinz Weißmann wird in zwei Wochen fortgesetzt.

Foto: Tibet-Fahne: Überfrachtete Zeichensprache wie im Mittelalter

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