© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/08 11. April 2008

Messerscharfe Analysen eines Opportunisten
Der Publizist Giselher Wirsing und seine außenpolitischen Raumkonzepte zwischen Versailles und der Ost-West-Konfrontation
Doris Neujahr

Der 100. Geburtstag des Journalisten und Publizisten Giselher Wirsing am 15. April 2007 wurde nirgendwo vermerkt, auch nicht im Rheinischen Merkur, der 1979 mit der Wochenzeitung Christ und Welt fusioniert hatte. Dabei war Wirsing 16 Jahre lang Chefredakteur dieses bis 1963 größten deutschen Wochenblattes gewesen. Ein gutgezielter Artikel in Christ und Welt konnte laut Armin Mohler eine ähnliche Wirkung haben wie später nur noch in der FAZ. Mohler, der einige Jahre als freier Mitarbeiter dort tätig gewesen war, nannte Wirsing "eine der größten publizistischen Begabungen (...), und zwar mit einem ausgesprochenen Sinn für Außenpolitik", zeichnete im übrigen aber das Bild eines Opportunisten, der stets die Nähe zur (wechselnden) Macht gesucht habe. Er sei "Nutznießer des Dritten Reiches" gewesen, was er nach 1945 "durch kriecherische Willfährigkeit" gegenüber der "Reeducation" wettzumachen versucht habe. So sei er zu einem Hauptschuldigen am Niedergang der konservativen Presse in Deutschland geworden.

Der Zeithistoriker Norbert Frei und der linke Publizist Otto Köhler interpretieren Wirsings Nachkriegskarriere als Beispiel für das Fortwirken von NS-Eliten in der jungen Bundesrepublik. Die Journalistin Margret Boveri schrieb in einem Brief an Wirsings Tochter Sybille, die in der FAZ und im Berliner Tagesspiegel publizierte, sie habe jedes Buch ihres Vaters aus der Zeit des Dritten Reiches gelesen und leide schwer unter dessen antisemitischen Einlassungen. Diese Gemengelage aus politischen, historischen und emotionalen Gründen erklärt, weshalb sich heute kaum jemand an den schon durch seine SS-Mitgliedschaft kompromittierten Wirsing erinnern mag. Doch ein Blick in seine Bücher ist für das historische und politische Verständnis nach wie vor lohnend.

Giselher Wirsing hatte am Ende der Weimarer Republik dem Tat-Kreis um Hans Zehrer angehört. Ab 1933 machte er eine steile Karriere als Chefredakteur der Münchner Neuesten Nachrichten, als Publizist, Buchautor, Reiseschriftsteller und - SD-Mitarbeiter. Die Tatsache, daß er erst 1938 der NSDAP beitrat, spricht dafür, daß sein Aufstieg sich mindestens so sehr seinem Talent wie der Regimenähe verdankte. Ab Herbst 1944 verfaßte er für den Abwehrchef Walter Schellenberg die sogenannten "Egmont-Berichte" zur hoffnungslosen innen- und außenpolitischen Situation Deutschlands. Schellenberg übergab sie einem kleinen Kreis hochrangiger Führungskader, um sie zu Friedensinitiativen - notfalls ohne oder gegen Hitler - zu veranlassen. Wirsings Detailkenntnisse, analytischen Fähigkeiten, sein geschichtlich-kulturelles Hintergrundwissen haben später Peter Glotz, den letzten wirklichen Kopf in der SPD, angezogen, der sich zu Beginn der 1990er Jahre auf sein Buch "Zwischeneuropa und die deutsche Zukunft" (1932) bezog - die Dissertation eines knapp 24jährigen. Zur Kenntnis genommen hat ihn auch Altkanzler Helmut Schmidt, dessen Memoirenband "Menschen und Mächte" im Titel sowie formal und konzeptionell durch Wirsings letztes vor seinem Tod 1975 veröffentlichte Werk "Der abwendbare Untergang. Die Herausforderung an Menschen und Mächte" (1974) beeinflußt wurde.

Im Buch "Zwischeneuropa" verbindet Wirsing die auf zahlreichen Reisen durch Ost- und Südosteuropa gewonnene Erkenntnisse mit einer Analyse der deutschen Situation nach Versailles. Als Ausweg aus der erdrückenden Situation sah Wirsing ein "Zwischeneuropa", das über den "statischen Patriotismus" der nationalstaatlichen Lösung hinausging. Deutschland müsse "eine neue soziale Ordnung und damit eine neue übernationale Ordnung" erstreben und "das Soziale so weit (spannen), daß es auch den Sozialismus der anderen jungen Völker mit einbegreift". Vom Horizont der Wilhelmstraßen-Diplomatie wie vom Chauvinismus der NS-Bewegung war diese Perspektive gleich weit entfernt. Auch im nächsten Buch, "Deutschland in der Weltpolitik" (1933), beschränkte Wirsing in einer in Großräume aufgeteilten Welt Deutschlands Rolle nur auf Ostmitteleuropa.

Wer als sehr junger Mann die deutschen Möglichkeiten so zurückhaltend einschätzte, mußte in reiferen Jahren über den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges tief besorgt sein. In seinem weitverbreiteten Kartenwerk über den Krieg 1939/41 versuchte er natürlich, den Eindruck deutscher Unbesiegbarkeit zu vermitteln, doch mußte er dazu auf optische Manipulationen zurückgreifen, die über die Größe der russischen Landmasse und des von den Angelsachsen beherrschten See- und Überseeareals hinwegtäuschen sollten.

Drei seiner Bücher verdienen besonderes Augenmerk: "Das Zeitalter des Ikaros" (1943) ist ein politischer und zugleich historisch-kulturgeschichtlicher Essay, dessen geistige Kraft und literarische Qualität sogar an Carl Schmitts "Land und Meer" heranreicht. Geschrieben wurde er im Bewußtsein des für Deutschland nicht mehr gewinnbaren Krieges. Wirsing entwarf das Bild einer durch den technischen Fortschritt globalisierten Welt, die vom See- in das Luftzeitalter wechselt. Die entstandenen Raumverhältnisse ließen eine Rückkehr in das nationalstaatliche Zeitalter nicht mehr zu. Realismus statt Romantik, lautete seine Forderung.

Mit Oswald Spengler, den er kurz vor dessen Tod besucht hatte, stimmte er überein, daß man den "Untergang des Abendlandes" nicht vulgär kulturpessimistisch auffassen durfte. Als Beleg zitiert er daraus das Schlußwort, ein Horaz-Wort: "Den Willigen führt das Schicksal, den Widerstrebenden reißt es fort." Als Ursache des Krieges unterstellte er die Konkurrenzfurcht der liberal-kapitalistischen und der kommunistischen Welt vor dem von Deutschland beschritten "Dritten Weg", der ganz Europa eine neue, eigene Richtung wies. Gegen den westlichen Einheitsmenschen, der bis in seine intimsten Lebensbereiche durch Werbung und Konsumindustrie konditioniert war, und den bolschewistischen Massenmenschen setzte er den sich seiner Geschichtlichkeit bewußten Europäer. Statt der "Gleichheit der Menschen" postulierte er eine "Gleichwertigkeit der Arbeit und ihrer Träger". Daraus ergab sich eine im gemeinsamen Schaffen verbundene Gemeinschaft, die auf dem "Recht auf gemeinsame soziale Sicherheit" basiert. "Statt 'rechts' gegen 'links' tritt ein politisch-sozialer Zustand ein, der zugleich rechts und links ist." Europa stellte er sich als eine historisch und kulturell gegliederte, nach außen geschlossene Gemeinschaft vor. Die deutsche Hegemonie sei nur kriegsbedingt, vorübergehend, katalysatorisch. "Der Zweite Weltkrieg wird für Europa der Einigungskrieg sein, oder Europa wird nicht mehr sein."

Sein nächstes Buch "Die Politik des Ölflecks. Der Sowjetimperialismus im zweiten Weltkrieg" (1944) erschien unter dem Pseudonym "Vindex". Das war nicht - wie Otto Köhler mutmaßt - als Tarnung seiner Person gedacht, denn Wirsing lüftete das Pseudonym ausdrücklich, indem er aus seinem "Ikaros" zitierte, sondern transportierte eine, wie wir noch sehen werden, im Kontext der NS-Herrschaft ungeheuerliche Botschaft. Wirsing ließ wenig Zweifel daran zu, daß der Krieg für Deutschland verloren und damit eine geschichtliche Entscheidung gefallen war. Vier Jahre vor Ludwig Dehios "Gleichgewicht oder Hegemonie" formulierte er: "Das jahrhundertealte Spiel um innereuropäische Machtfragen ist ausgespielt. Jetzt geht es allein noch darum, ob dieser Erdteil (...) als Ganzes bestehen bleiben wird." Er analysierte die russisch-sowjetische Außenpolitik in ihrem Drang nach Westen, auch die meisterhafte Diplomatie Stalins, der durch seinen Pakt mit Hitler sowohl Großbritannien als auch Deutschland überspielt hatte. Um die westlichen Alliierten zu täuschen, sei er von der linearen Kriegführung gegen die kapitalistische Welt zu einer "Politik des Ölflecks" übergegangen. Revolutionäre Umwälzungen sollten sich statt weltweit zunächst in den angrenzenden Ländern vollziehen, in Europa und dem nahen Orient, und dann in konzentrischen Kreisen auf fernere Weltgegenden übergreifen. In einer Mischung aus Furcht, Illusionismus und Einsicht in die eigene Schwäche hätten die Europäer der russischen Drohung und der kommunistischen Volksfrontpolitik im Innern nichts entgegenzusetzen. Im möglichen dritten Weltkrieg ließe sich Europa nur durch die Amerikaner vor den Russen retten. In diesem Zusammenhang verkündete das Pseudonym eine dramatische Botschaft: Vindex war ein Senator und Statthalter, der sich im Frühjahr 68 gegen Kaiser Nero erhob, nicht um selber Kaiser zu werden, sondern um dem Statthalter Sulpicius Galba die Kaiserwürde anzubieten. Hitler war in dieser Konstellation zum Nero geschrumpft, und Wirsing war der Bote, der den USA die Nachricht von ihrer neuen Kaiserwürde überbrachte. Für diese Lesart spricht auch, daß es in dem Buch zwar sachliche Kritik, aber keine ideologische Auseinandersetzung mit den USA mehr gibt.

Wenn Wirsing - wie mehrere Quellen berichten - sofort nach dem Krieg für ein enges Bündnis (West-)Deutschlands mit den USA eintrat, folgte er also nur seiner längst gewonnenen Einsicht in die geschichtliche und politisch-strategische Lage. Auch die in seinem ersten nach 1945 veröffentlichten Buch "Schritt aus dem Nichts" (1951) formulierte Überzeugung, der Nationalismus (nicht die Nation) wirke nach der Erfahrung des Nationalsozialismus nur noch "lächerlich", aktualisierte eine Überzeugung, die er schon vor 1933 begründet und auch danach nie verleugnet hatte. Insofern geben Wirsings Bücher Anlaß, bestimmte Kontinuitäten des politischen Denkens über die Jahre 1933 und 1945 hinaus in ihrer Berechtigung anzuerkennen, anstatt sie mit stupidem Moralismus abzuwerten. Europa war zwar zwischen den USA und der Sowjetunion geteilt, doch die Befürchtung, es könne auch "geistig zerrieben" werden, hielt Wirsing für abwegig. Die Amerikaner hätten längst die Sinnlosigkeit des Versuchs eingesehen, aus Westdeutschland ein "little America" zu machen.

Unter dem Schutz der USA und befreit von den Lasten imperialer Politik, glaubte er, könne Westeuropa sich stellvertretend für den ganzen Kontinent als "geistige Wirkungseinheit" konstituieren. Die europäische Denk- und Lebensform hätte weltweit gesiegt, nun sei es die Aufgabe Europas, die von ihm geschaffene Weltzivilisation geistig zu überhöhen, neue Formen des internationalen Zusammenlebens zu kreieren, die auf die Welt zurückstrahlen. Energisch sprach er sich für die Schaffung europäischer Institutionen aus, die die nationalstaatlichen nicht ersetzten, aber die notwendige Kooperation institutionalisierten.

Dahinter wurde die unausgesprochene Hoffnung sichtbar, aus der "geistigen Wirkungseinheit" möge doch noch ein politischer Großraum werden. Die Teilung Europas und damit auch die US- und sowjetische Vorherrschaft sah er als ein Interregnum an, dessen Beständigkeit er freilich unterschätzte. Die Sowjetunion und die DDR tat er als "nur noch zuckende neurotische Gebilde" ab. Vor allem aber lag es jenseits seiner Vorstellung, daß die USA insgeheim ganz andere geistige Wirkungsmächte in Stellung brachte, um Deutschland und Europa geistig zu neutralisieren und damit auch die europäische Einigung zu kontrollieren. Dies auch in den folgenden Jahrzehnten nicht deutlich formuliert zu haben, führte zu seinem Ruf, ein willfähriger Opportunist zu sein. Dabei sollte man jedoch nicht stehenbleiben, sondern Wirsings Europavision genauso gründlich zur Kenntnis nehmen wie die Gründe ihres Scheiterns, um die heutige Lage Deutschlands und Europas zu begreifen.

Foto: Giselher Wirsing als Chefredakteur von "Christ und Welt" um 1970: Europa als "geistige Wirkungseinheit" konstituieren

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