© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/08 18. April 2008

Zeit für die Agenda 2020
Die Notwendigkeit von Reformen ist heute dringender denn je
Paul Rosen

Keine drei Jahre nach dem Abtritt ihres Erfinders Gerhard Schröder von der politischen Bühne verschwindet die "Agenda 2010" in der Bedeutungslosigkeit. Die Ziele dieses ehrgeizigen Plans, Deutschland für das kommende Jahrzehnt fit zu machen, Kosten zu senken und den Arbeitsmarkt flexibler zu machen, wurden entweder verfehlt oder letztlich von Schröders Erben aus Angst vor den Wählern aufgegeben. Nur die deutsche Sprache wurde nachhaltig verändert: "Hartz IV" und "Ich-AG" zählen jetzt zum sprachlichen Allgemeingut.

Selbst Sozialstaatsromantiker Blümscher Schule müssen zugeben, daß in der Bundesrepublik Veränderungen nötig waren und nötig sind. Doch für den Durchschnittsbürger, der Angst vor Arbeitslosigkeit und zu niedriger Rente hat, waren Schröders in einer quasi-religiösen Feier mit Peter Hartz als Zeremonienmeister vorgestellten Pläne zuviel des Guten. Eine Folge von "Hartz IV" ist das Erstarken der Linkspartei auch im Westen. Die von Angela Merkel mehr moderierte als geführte Große Koalition in Berlin reagiert panisch. Sie verlängert die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Ältere, setzt Mindestlöhne durch und erhöht jetzt - wenn auch nur symbolisch - die Renten. Hardcore-Hartzer wie der frühere Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) raten inzwischen davon ab, die SPD zu wählen.

Aber liegt das Heil Deutschlands wirklich in der Agenda 2010, wie Clement weismachen will? Reformen am Arbeitsmarkt und die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe sind eigentlich sinnvoll, Mindestlöhne oder vergleichbare Maßnahmen ebenfalls. Hier treffen sich sogar marxistische Ideologie und christliche Soziallehre. Vernichtet worden sind die Agenda-Maßnahmen letztlich von ihren Erfindern selbst. Die quasi-religiöse Verkündung brachte die Aufforderung mit, an Hartz zu glauben. Wer das nicht tat, galt als Modernisierungsverweigerer. Jetzt bricht alles wie ein Kartenhaus zusammen. Der Fehler lag hauptsächlich darin, daß die Menschen nicht hinreichend überzeugt werden konnten von den an sich dringend notwendigen Reformen, sondern zu ihrem Glück gezwungen werden sollten. In der Demokratie führt so etwas geradewegs zu einem Wahlsieg der Opposition, der 2005 prompt eintrat.

An der Notwendigkeit von Reformen ändert das nichts. Der Arbeitsmarkt ist nach wie vor eine einzige Katastrophe. Die sinkende Zahl der Arbeitslosen gründet sich hauptsächlich auf Manipulationen an der Statistik. Agenda-Maßnahmern von der Ich-AG bis zur Aufhebung des Meisterzwangs in vielen Handwerksberufen haben nichts gebracht. Die Staatsfinanzen gesunden nur scheinbar. Hintergrund der plötzlichen Geldvermehrung ist die Inflation, von der man weiß, daß sie ein süßes Gift ist. Der Gesundheitsfonds steht vor dem Scheitern, die Reform der Pflegeversicherung entpuppt sich als Beitragserhöhung. Die Wirtschaft ist labil. Die Krise der Finanzmärkte läßt Geld für Investitionen knapp werden.

Doch die Politik tritt auf der Stelle. Man steht vor wichtigen Landtagswahlen, etwa im Herbst in Bayern. Und 2009 wird ein neuer Bundestag gewählt. Dabei wäre jetzt die Zeit, mit einer "Agenda 2020" vor den Wähler zu treten. Dazu gehören maßvolle Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt wie eine leichte Lockerung des Kündigungsschutzes. Gleichzeitig muß es einen Mindestlohn- oder ein Kombilohn-Modell geben. Es kann nicht sein, daß Herrenhaarschnitte durch Lohndumping in Berlin nur noch 8,50 Euro kosten. Die frühere Arbeitslosenhilfe (Hartz IV) muß in die Verantwortung der Kommunen übergehen. Entscheider vor Ort wissen besser als die Bundesagentur, wo es Arbeit gibt. Unternehmen sind vor dem Aufkauf durch "Heuschrecken" zu schützen.

Das Gesundheitssystem gehört stabilisiert und Angela Merkels Idee von einem Gesundheitsfonds in die Mülltonne. Die DDR ist auch an ihrer Zentralverwaltungswirtschaft gescheitert, dem Gesundheitssystem droht ein gleiches Schicksal. Eine schnelle Maßnahme wäre die Umstellung vom Sachleistungs- auf das Kostenerstattungsprinzip, vor allem um Betrug zu verhindern. Millionen von Privatversicherten und auch kleine Beamte zahlen ihre Rechnungen vom Arzt zunächst selbst und lassen sie sich dann von der Versicherung erstatten. Das ist auch allen anderen Arbeitnehmern und Rentnern zuzumuten. Die vor der Pleite stehende Pflegeversicherung gehört aufgelöst. Pflegeleistungen sind von den Krankenkassen zu bezahlen, deren Selbständigkeit garantiert sein muß.

Im wirtschaftlichen Bereich sind die Privatisierungsorgien der Vergangenheit zu stoppen. Der Beweis, daß eine private Bahn besser fährt als eine staatliche, wurde bisher nicht erbracht. Die Privatisierungen haben zu Dumping-Löhnen, Massenentlassungen und Gewinnmaximierungen geführt. Die Sozialpflichtigkeit von Eigentum und Kapital wurde vergessen. Auch sind die Verluste öffentlich-rechtlicher Banken kein Argument für ihre Privatisierung. Einerseits haben die privaten Banken ihre Verluste meist lediglich besser versteckt, und andererseits gehört der Handel mit bestimmten Wertpapieren, die nichts anderes sind als Wetten auf künftige Kursverläufe, verboten. Dieses Programm würde die Bürger mitnehmen auf eine Reise in ein sicheres Jahr 2020.

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