© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/08 25. April 2008

Die abchasische Karte
Machtkämpfe im Kaukasus: Rußlands Interessen und die Hoffnungen der Separatisten auf Unabhängigkeit
Martin Schmidt

Die russische Außenpolitik hat auf die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo auf zwei Ebenen reagiert. Obwohl beispielsweise Dmitri Rogosin, der Vertreter des Kreml bei der Nato, und Präsidentenberater Sergej Jastrschembski die Brüskierung Serbiens mit drastischen Worten verurteilten, ließ Moskau keinen Zweifel daran, daß es die offene große Auseinandersetzung mit den USA zu vermeiden trachtete. Man beließ es bei Verbalradikalismen wie jenem des scheidenden Präsidenten Wladimir Putin bei einem informellen GUS-Gipfel, der die Kosovo-Problematik gegenüber den westlichen Kontrahenten derart kommentierte: "Das ist ein Stock mit zwei Enden, und das zweite Ende wird ihnen irgendwann mal eins über die Rübe ziehen!" 

Rußlands Gegenmaßnahmen sind längerfristiger Art und beziehen sich auf strategische Interessen im Kaukasus. So ließ die wiedererwachte Großmacht durchblicken, daß sie ihre bisherige Ablehnung einer einseitigen Souveränitätserklärung der abtrünnigen georgischen Gebiete Abchasien und Südossetien überdenken könnte. Tatsächlich rechnen die Führer dieser Regionen damit, daß ihre Sezession noch im laufenden Jahr international anerkannt wird - und zwar nicht allein von Rußland, sondern durch etliche von Moskau in dieser Frage bestärkte Staaten rund um den Globus.

Im Kreml wird derweil an einem Präsidenten-Ukas gearbeitet, der die Einrichtung offizieller russischer Vertretungen in Abchasien wie Südossetien erlauben würde. Obwohl es noch keine Botschaften geben soll, würde dies eine Teilanerkennung bedeuten. Während Südossetien seine Souveränität zunächst international bestätigt wissen will, diese dann aber durch ein Zusammengehen mit Nordossetien im Rahmen der Russischen Föderation gleich wieder aufzugeben beabsichtigt, möchte Abchasien zu einem formell unabhängigen Mitgliedsstaat der GUS werden.

Abchasien ist ein von der Natur reich beschenkter Landstrich am Rande des für seine üppige Vegetation bekannten Westgeorgien. Südfrüchte gedeihen, grüne Berghänge und schöne Sandstrände prägen das Bild und lockten zu Sowjetzeiten privilegierte Urlauber aus allen Teilen des roten Riesenreiches in das kleine Paradies am Schwarzen Meer, das zu den reichsten Territorien in der gesamten UdSSR gehörte.

Die Geschichte dieser Region ist kompliziert und mit ihr die Bewertung der territorialen Ansprüche, die die sezessionistischen Abchasen ebenso erheben wie die eng mit den USA verbündeten Georgier. Die zu den Kaukasusvölkern gehörenden Abchasen sind mehrheitlich sunnitische Moslems, eine Minderheit bekennt sich zum orthodoxen Christentum. Selbst nennen sie sich Apsua, ihr Land Apsni. Die abchasische Sprache gehört zu den ältesten der Welt, doch sehr lange besaßen ihre Sprecher keine eigene Schrift und gebrauchten zum Beispiel in der Dichtung die georgischen Buchstaben. Die abchasische Schrift wurde erst ab 1932 zunächst auf der Basis des Lateinischen, ab 1938 des Georgischen und ab 1954 des Russischen geschrieben.

Ein eigenes abchasisches Fürstentum entstand bereits im 8. Jahrhundert und beinhaltete auch Westgeorgien. Im 10. Jahrhundert ging es im neuen Königreich Georgien auf, dem es bis zu dessen Zerfall im 15. Jahrhundert angehörte. Nach Jahrhunderten relativer Selbständigkeit schloß sich das abachasische Fürstentum im Kampf gegen die Türkenherrschaft 1810 Rußland an; zur Annexion Abchasiens durch das Zarenreich kam es aber erst 1864. Im Gefolge eines Aufstandes während des türkisch-russischen Krieges von 1877/78 und dessen Niederschlagung durch die Russen flüchteten viele Abchasen in das Osmanische Reich. Nachdem es laut russischen Aufzeichnungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts 321.000 Abchasen gegeben hatte, waren es 1897 nur noch 58.000.

Auf die kurze Zeit der Unabhängigkeit an der Seite Georgiens nach dem Ersten Weltkrieg folgte der Einmarsch der Roten Armee (1921), der Abchasien eine Autonomie innerhalb Georgiens brachte. Nach den georgischen Aufständen gegen die Sowjetherrschaft (1924) trennte der neue Diktator Stalin Abchasien von Tiflis und machte es zu einer  Sozialistischen Sowjetrepublik. 1931 ging dieser Status wieder verloren.

In welchem Ausmaß es zu Beginn des 20. Jahrhunderts, aber auch in der Zwischenkriegszeit zu einer georgischen "Überfremdung" des Landes kam, ist umstritten. Ähnliches gilt für den Vorwurf, die Abchasen hätten sich im letzten Jahrhundert immer wieder für großrussische Planspiele gegen Georgien instrumentalisieren lassen.

Fest steht, daß Abchasien jahrhundertelang ein Teil des georgischen Reiches war, dessen kulturell vielgestaltige Struktur durchaus mit dem mittelalterlichen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zu vergleichen ist. Dementsprechend beziehen sich uralte georgische Ansprüche sowie eigene Siedlungstraditionen auf jenes wohlhabende Gebiet im Nordwesten mit den traditionsreichen Orten Pizunda, Lichni, Novy Afon und Suchumi. Die sich vom Mutterland entfernenden staatlichen Optionen der Abchasen sind jüngeren Datums, aber dessenungeachtet ebenso ernst zu nehmen. Fest steht aber auch, daß es im Jahr 1990 eine georgische Bevölkerungsmehrheit im zur Sowjetrepublik Georgien gehörenden Abchasien gab. Von den rund 530.000 Einwohnern waren 240.000 Georgier (46 Prozent) und nur 90.000 Abchasen (18 Prozent); hinzu kamen größere Gruppen von Armeniern (14,5 Prozent) und Russen (14 Prozent). Laut Volkszählung von 1989 umfaßte die Einwohnerzahl Abchasiens vor dem Beginn der Unruhen im sich auflösenden Sowjetimperium 524.000 Personen.

Viele Abchasen fühlten sich bereits nach der Verabschiedung der sowjetgeorgischen Verfassung von 1978 kulturell diskriminiert und verlangten den Anschluß an die Russische Sozialistische Sowjetrepublik. Die Kreml-Herrscher gaben diesem Ersuchen zwar nicht nach, gewährten aber eine Reihe von Zugeständnissen einschließlich der Errichtung einer eigenen Universität in der Regionalhauptstadt Suchumi. Dies wiederum erzürnte die georgische Bevölkerungsmehrheit, der es schon nicht zu vermitteln gewesen war, warum die abchasische Minderheit von nicht einmal 18 Prozent der Einwohner fast alle Führungspositionen in der KP und der Regierung der autonomen Republik besetzen konnte.

Während der Perestrojka unter Michail Gorbatschow entstand auch in Abchasien eine Volksfront, die die Sezession von Georgien anstrebte und zu diesem Zweck im Frühjahr 1989 Massendemonstrationen organisierte, die schon bald erste Todesopfer kosteten. Die Gegendemonstrationen nationalgesinnter Georgier in Tiflis wurden von den sowjetischen Sicherheitskräften durch Giftgaseinsetz brutal beendet. Die Moskauer Parteinahme zugunsten der Abchasen war Ausdruck der seinerzeitigen Ängste vor der nationalistischen Volksbewegung um den georgischen Schriftsteller Swiad Gamsachurdia, die für ein unabhängiges Georgien kämpfte und Separationsbestrebungen an den eigenen Grenzen kompromißlos entgegenwirkte.

Am 25. August 1990 erklärte der Oberste Sowjet der Abchasischen Sozialistischen Sowjetrepublik die staatliche Eigenständigkeit des Gebietes; man boykottierte die freien georgischen Wahlen vom Oktober 1990, paktierte weiter mit der Moskauer KP-Zentrale, unterstützte gar den dortigen Putschversuch im August 1991.

Der offene abchasisch-georgische Krieg begann im Sommer 1992, nachdem der Oberste Sowjet Abchasiens im Juli die abchasische Verfassung von 1925 an die Stelle der georgischen Verfassung von 1978 gesetzt und damit das Unabhängigkeitsstreben untermauert hatte. Ab Herbst 1992 nahmen vor dem Hintergrund eigener wirtschaftlich-strategischer Interessen auch reguläre russischen Truppen auf seiten der Abchasen an den Kämpfen teil.

Georgiens Armee hatte dem wenig entgegenzusetzen und mußte einen hohen Blutzoll entrichten. Bis zum Sommer 1993 konnten die abchasischen Milizen und ihre Helfershelfer das ganze Land außer der Hauptstadt Suchumi unter Kontrolle bringen. Die letzten georgischen Truppen verließen dann am 30. September 1993 Abchasien, gefolgt von ungefähr 250.000 georgischen Flüchtlingen sowie Tausenden von Armeniern und Griechen. Die frühere pro-georgische Regierung zog nach Tiflis um. Seit September 2006 residiert sie in dem von Georgien kontrollierten oberen Teil des zu Abchasien gehörenden Kodori-Tals, während die Masse der Flüchtlinge noch immer nicht in ihre Heimat zurückkehren konnte - trotz einer mittlerweile über ein Jahrzehnt währenden Uno-Blauhelmmission und russischen "Friedenstruppen", die sich keineswegs neutral verhalten.

Die völkerrechtswidrige, auch von den UN nicht anerkannte Lostrennung Abchasiens wird nicht nur von Präsident Micheil Saakaschwili und anderen hochrangigen politischen Vertretern Georgiens bei jeder Gelegenheit beklagt; praktisch das ganze georgische Volk ist nicht bereit, die faktische Eigenständigkeit der Nordwestprovinz zu akzeptieren. Am Grenzfluß Inguri kommt es immer wieder zu Scharmützeln, die vom fortbestehenden Haß zeugen. In Georgien hofft man auf diplomatische wie militärische Unterstützung durch die USA und stellt den Abchasen eine weitreichende Autonomie in Aussicht. Zuletzt bekräftigte die Führung in Tiflis dieses Angebot kurz vor dem jüngsten Nato-Gipfel in Bukarest. Saakaschwili bot den Abchasen bei einem Zusammengehen unter anderem das Amt des Vizepräsidenten an, eine feste parlamentarische Vertretung sowie die Einrichtung von Freihandelszonen. Der abchasische "Präsident" Sergej Bagapsch lehnte ab.

Rußland hat an diesem bis heute durch die Kämpfe der frühen neunziger Jahre gezeichneten Teil der Schwarzmeerküste längst harte Fakten geschaffen. Über 90 Prozent der verbliebenen Bewohner Abchasiens besitzen mittlerweile die russische Staatsangehörigkeit, die Rentner des Landes erhalten ihre Pensionen aus einem staatlichen russischen Fonds, und man öffnete die Grenzen. Seit 2004 ist die über ein Jahrzehnt lang stillgelegte Eisenbahnverbindung Suchumi-Moskau wieder in Betrieb und ermöglicht einen schwunghaften Handel. Russische Privatleute und Firmen erwarben in der Region in großem Stil Immobilien, darunter viele der einst noblen Hotels und Sanatorien. In der Nähe der Stadt Gudauta liegt nicht zuletzt ein strategisch bedeutsamer Militärflughafen, der von den Radaranlagen der Nato in der Türkei angeblich nicht erfaßt wird und den heute russische "Friedenstruppen" kontrollieren.

Foto: Flüchtlingsdramen in Abchasien: Mehr als 300.000 Georgier, Armenier, Griechen und Juden sind bereits aus der Krisenregion geflohen

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