© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/08 25. April 2008

Klassenkämpferisch in die Volksgemeinschaft
Der 1. Mai 1933 wurde von den Nationalsozialisten als ein sozialistisches Experiment inszeniert
Manfred Müller

Sozialdemokraten und Kommunisten rieben sich am 11. April 1933 bei der Zeitungslektüre verwirrt die Augen: Durch Reichsgesetz vom 10. April führte die Regierung Hitler den 1. Mai, seit 1889 internationaler Kampftag der Arbeiterklsse, als deutschen Staatsfeiertag, als den "Feiertag der nationalen Arbeit", ein. Und am 20. April wurde Lohnfortzahlung für diesen Feiertag angeordnet. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels war vom Kabinett mit den notwendigen Vorbereitungen für diesen Festtag beauftragt worden. Am 24. März notierte er im Tagebuch: "Wir werden das in großem Rahmen aufziehen und zum erstenmal das ganze deutsche Volk in einer einzigen Demonstration zusammenfassen."

Goebbels, der sich nach wie vor als ein radikaler (nationaler) Sozialist verstand, wollte mit der Umfunktionierung des sozialistisch-kommunistischen Kampftages eine den Klassenkampf überwindende Bewußtseinsrevolution forcieren. Zugleich wollte er die "Marxisten" als Vertreter eines "Sozialismus der Phrase" abqualifizieren und den Nationalsozialisten einen "Sozialismus der Tat" zuordnen. In einem Aufruf vom 24. April betonte er: "Die Schranken von Klassenhaß und Standesdünkel wurden niedergerissen, auf daß Volk wieder zu Volk zurückfand. Nun stehen wir vor der schweren und verantwortungsvollen Aufgabe, nicht nur das deutsche Arbeitertum zum sozialen Frieden zurückzuführen, sondern es als vollberechtigtes Mitglied in den Staat und in die Volksgemeinschaft mit einzufügen." In diesem Sinne formulierte Goebbels die Losung: "Ehre den Arbeiter, so ehrst du dich selbst!"

Tagelang arbeitete der Minister an der technischen Durchführung des ehrgeizigen Projekts, das nach seinen Vorstellungen "ein Meisterwerk der Organisation und Massendemonstration" werden sollte. Im ganzen Reich sollten örtliche Veranstaltungen stattfinden: von Gottesdiensten über Festumzüge und Kundgebungen bis hin zu Volksbelustigungen. Am Abend sollte dann die Rundfunkübertragung der Massenkundgebung aus der Reichshauptstadt (Tempelhofer Feld) viele Millionen Deutsche im Geiste zu einer großen Einheit zusammenführen. Um die massenhafte Beteiligung der Bevölkerung mußte Goebbels nicht bangen.

Sogar die durch die revolutionären Vorgänge bereits angeschlagenen Führer der sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften biederten sich an, in der Hoffnung, dadurch vielleicht ein Überleben ihrer Organisationen sichern zu können. Der Bundesvorstand des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) begrüßte am 15. April die Feiertagsregelung und unterstützte die volksgemeinschaftliche Umdeutung der 1.-Mai-Feier. Am 19. April rief der Bundesausschuß des ADGB die Arbeiter auf, sich an den Veranstaltungen zu beteiligen. Am 29. April schrieb Walther Pahl, Leiter der Zentralstelle für den Freiwilligen Arbeitsdienst beim ADGB, in der Zeitung seiner Gewerkschaft: "Vom Nationalsozialismus unterschied uns keine andere Rangordnung der Werte Nation und Sozialismus, sondern lediglich eine andere Prioritätsordnung. Wir wollen erst den Sozialismus, um die Nation zu gestalten. Der Nationalsozialismus forderte und verwirklichte jetzt die Einheit der Nation, um auf diesem breiten und festen Fundament den deutschen Sozialismus aufzubauen."

Mit Besorgnis hatten führende Sozialdemokraten schon im März das Umschlagen der Stimmung in den "roten" Arbeiterbezirken festgestellt. Der bayerische Reichstags- und Landtagsabgeordnete Wilhelm Hoegner (nach dem Zweiten Weltkrieg bayerischer Ministerpräsident) ging am "Tag von Potsdam" mit einigen bayerischen Genossen durch die Arbeiterviertel im Norden Berlins: "Hier waren einst die kommunistischen Hochburgen gewesen. Jetzt sahen wir alle Häuser mit Hakenkreuzfahnen beflaggt. Wir hörten auf der Straße Arbeiterfrauen, die sich laut und anerkennend über den 'Führer' unterhielten. Da sahen wir uns verwundert an. So unaufhaltsam hatten wir uns den Abmarsch der Masse zu Hitler doch nicht vorgestellt."

Die Maifeier in der Reichshauptstadt begann mit einer Jugendkundgebung im Lustgarten. Später empfingen Hitler und Hindenburg Arbeiterdelegierte aus dem Reich, dem Saargebiet, aus Danzig und aus Österreich, die mit Sonderflugzeugen nach Berlin gebracht worden waren. Hitler bat die Arbeiter, in ihre Heimat "die Überzeugung zurückzutragen, daß die deutsche Arbeit und der deutsche Arbeiter hier in des Reiches Hauptstadt von dem Herrn Reichspräsidenten selbst die Ehrung und die Würdigung erfahren, die die deutsche Arbeit und der deutsche Arbeiter beanspruchen können".

In zehn großen Marschsäulen zogen die Berliner Betriebe und Verwaltungen, die Betriebsleitungen und die Beschäftigten, zum Tempelhofer Feld, das Albert Speer für die erwarteten eineinhalb Millionen Teilnehmer hatte herrichten lassen. Bis zum Abend wurden hier die Volksmassen mit Wort, Musik und  Kunstflugdarbietungen unterhalten und eingestimmt. Viele der hier zusammengeströmten Berliner waren bisher "Rote" gewesen. Zweifellos waren auch nicht alle ganz freiwillig gekommen, aber die Fäuste wurden nicht geballt und es wurde auch nicht "Rotfront" gerufen. Nach den Vorstellungen der Organisatoren kam so der Kontrast zum Berliner "Blutmai" von 1929 deutlich zum Vorschein. Damals hatte die KPD einem Demonstrationsverbot getrotzt und den Bürgerkrieg geprobt, indem sie mehrtägige Barrikadenkämpfe mit 13 Toten und 200 Verletzten verursachte.

In seiner großen Rede am Abend, die von Speers Lichtregie eindrucksvoll unterstrichen wurde, steigerte sich Hitler als Volksredner geradezu in Ekstase hinein. Ausgehend von dem Lied "Der Mai ist gekommen", brillierte Hitler durch eine raffinierte Übernahme sozialistischer Rhetorik und Symbolik aus der "roten" Maitradition. Er identifizierte den Einzug des Frühlings mit dem Aufbruch des neuen Deutschland in eine neue Zeit. Und er schürte eine rauschhafte Begeisterung, indem er mit  pseudoreligiöser Überhöhung die Vision einer versöhnten Volksgemeinschaft des nationalen Sozialismus ausmalte. Ein grandioses Feuerwerk beendete diesen Maifeiertag.

Bei einem solchen Massenspektakel, so meinte Joachim C. Fest, "fühlten die Menschen sich durch die Geschichte selbst berührt und von Erinnerungen an das ferngerückte, aber unvergessene Einheitserlebnis der Augusttage 1914 übermannt: wie verwandelt von einem plötzlichen Gefühl halluzinatorischer Brüderlichkeit". Die am 2. Mai dann einsetzende Zerschlagung der Gewerkschaften wurde von vielen in dieser Hochstimmung eher achselzuckend hingenommen. Ekstatische Hoffnungen und große Illusionen in diesem Frühjahr - die revolutionäre Umgestaltung von Volk und Staat traf da kaum noch auf entschiedenen Widerstand.

Foto: Hakenkreuzfahnen werden für den "Tag der nationalen Arbeit" in der Fahnenfabrik vor der Färbung mit roter Farbe zum Trocknen aufgehängt, Berlin 1933: Es wurde nicht "Rotfront" gerufen

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