© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/08 02. Mai 2008

Langer Marsch zum Chefsessel
Alles schien möglich: Auch in Frankreich gibt es vierzig Jahre nach '68 keinen Grund zu feiern
Alain de Benoist

Alle zehn Jahre wieder wird das Gedenken an den Mai '68 fällig. Derzeit geht es in seine vierte Runde, und die Barrikadenstürmer von einst sind inzwischen im Großelternalter. Vierzig Jahre danach streitet man immer noch um die Bedeutung der damaligen Ereignisse - und darum, ob sich überhaupt etwas ereignet hat. Was war der Mai '68: Katalysator, Ursache oder Folge? Hat er eine neue Ära eingeleitet oder lediglich eine gesellschaftliche Entwicklung beschleunigt, die sowieso eingetreten wäre?

Frankreich kennt das Geheimnis kurzer Revolutionen. Der Mai '68 bildete da keine Ausnahme. Die erste "Nacht der Barrikaden" fand am 10. Mai statt. Am 13. Mai begann der Generalstreik. Am 30. Mai löste Staatspräsident Charles de Gaulle die Nationalversammlung auf, während eine Million seiner Anhänger durch die Champs-Elysées marschierten. Schon am 5. Juni wurde in den Unternehmen die Arbeit wieder aufgenommen, und wenige Wochen später entschieden die bürgerlichen Parteien die Parlamentswahlen mit einem Erdrutschsieg für sich.

Im Vergleich zu dem, was sich zur selben Zeit anderswo in Europa abspielte, fallen zwei deutliche Unterschiede ins Auge. Zum einen handelte es sich in Frankreich nicht nur um eine Studentenrevolte. Der Mai '68 war auch ein Arbeitskampf, in dessen Verlauf über zehn Millionen Streikende das Land lahmlegten. Der am 13. Mai von den Gewerkschaften ausgerufene Generalstreik war sogar der größte, den Europa bislang erlebt hat.

Zum zweiten hatte die französische 68er-Bewegung kein mörderisches Nachspiel. Dort bildeten sich keine terroristischen Gruppen wie die Rote Armee Fraktion (RAF) in Deutschland oder die Roten Brigaden in Italien. Über die Ursachen dieser "Mäßigung" ist schon endlos debattiert worden. Klarsicht oder Feigheit? Realismus oder Humanismus? Zweifellos hat der kleinbürgerliche Geist, der schon damals landauf, landab herrschte, dazu beigetragen, daß die französische Linke nicht dem "militanten Kommunismus" verfallen ist.

Verständlich werden die Ereignisse jedoch erst, wenn man sie als Ausdruck zweier vollkommen gegenläufiger Bestrebungen begreift. Ursprünglich war der Mai '68 ein Aufstand gegen den politischen Autoritarismus und somit unbestreitbar ein Protest gegen das Polit-Spektakel und die Herrschaft des Marktes, eine Rückbesinnung auf den Geist der Pariser Kommune und eine radikale Anklage gegen die bürgerlichen Werte. Diese Seite der Revolte war nicht unsympathisch, wenn auch von nostalgischen Anklängen und jugendlicher Naivität geprägt.

Der große Irrtum lag in dem Glauben, die Herrschaft des Kapitals ließe sich am besten mit Angriffen auf die traditionellen Werte bekämpfen. Dabei wird verkannt, daß gerade diese Werte mitsamt den noch verbleibenden Überresten organischer Gesellschaftsstrukturen der globalen Machtergreifung des Kapitalismus als letztes Hindernis im Wege stehen.

Der Soziologe Jacques Julliard stellte dazu treffend fest, die Revoluzzer vom Mai '68 seien "nicht darüber informiert gewesen, daß diese Werte (Ehre, Solidarität, Heldentum) bis hin zu ihrer Bezeichnung nahezu mit jenen des Sozialismus übereinstimmten. Indem sie sie abschafften, ebneten sie den Weg zum Triumph der bürgerlichen Werte: Individualismus, wirtschaftliches Kalkül, Effizienz."

Daneben gab es aber noch einen anderen Mai '68, der rein hedonistisch und individualistisch gestimmt war. Dessen Protagonisten hatten sich keineswegs revolutionäre Disziplin auf die Fahnen geschrieben, sondern wollten vor allem "Verbote verbieten" und "hemmungslos genießen". Freilich sahen sie schnell ein, daß sich diese Wünsche nicht durch eine Revolution, geschweige denn "im Dienst an den Menschen" befriedigen ließen, sondern am sichersten in einer permissiv-liberalen Gesellschaft. So dauerte es nicht lange, bis sie sich mit dem Liberalkapitalismus anfreundeten - was für viele von ihnen allerlei materielle und finanzielle Vorteile mit sich brachte.

Heute sitzen diese Menschen in politischen Gremien, Großunternehmen, Verlagshäusern und Medienkonzernen. Von dem Engagement ihrer Sturm-und-Drang-Jahre ist nichts mehr übrig als ein unverbesserliches Sektierertum. Der "lange Marsch durch die Institutionen" führte geradewegs zum bequemen Chefsessel.

Ebendiese Renegaten sind es, die der Menschenrechtsideologie und der Marktwirtschaft das Wort reden und von "Antirassismus" faseln, damit ja niemand sie an ihre antikapitalistischen Vorsätze von einst erinnert. Ihnen verdanken wir es, daß der Geist des "Bo-Bo", der liberal-libertären Bourgeoisie-Boheme allerorten fröhliche Urständ feiert, während kritisches Denken vollkommen aus der Mode gekommen ist. Insofern ist die Feststellung nicht übertrieben, daß letztlich die liberale Rechte den "hedonistischen" und "anti-autoritären" Aufbruch des Mai '68 gezähmt und trivialisiert hat. Mit seinem protzigen Lebensstil inszeniert sich der amtierende Präsident Nicolas Sarkozy als vorbildlicher Élevé der Achtundsechziger.

Indes hat sich die Welt verändert. In den sechziger Jahren blühte die Wirtschaft, und das Proletariat entdeckte den Massenkonsum. Die Studenten brauchten weder Aids noch Arbeitslosigkeit zu fürchten, und die Einwanderungsfrage stellte sich nicht. Alles schien möglich. Heute scheint die Zukunft versperrt. Die Jugendlichen träumen nicht mehr von Revolution. Sie wollen eine Stelle, eine Wohnung und eine Familie wie alle anderen auch. Dabei leben sie im Prekariat und müssen sich Sorgen machen, ob sie nach dem Studium einen Arbeitsplatz finden.

Auf den Barrikaden berief man sich auf geschichtliche oder auch auf exotische Vorbilder (die Kommune von 1871, die Arbeiterräte von 1917, die spanische Revolution von 1936 bzw. Maos "Kulturrevolution"), zumindest aber kämpfte man für etwas anderes als den persönlichen Wohlstand. Heutzutage werden soziale Forderungen immer nur im Namen einer bestimmten Klientel erhoben: Jeder Sektor fordert die höchsten Löhne und die besten Arbeitsbedingungen für die eigenen Leute. "Zwei, drei, viele Vietnams!", "Hasta la libertad, sempre!": Dergleichen läßt die Herzen offenbar nicht mehr höher schlagen. Für die Arbeiterklasse geht niemand mehr auf die Straße.

Von dem Soziologen Albert O. Hirschman stammt die Beobachtung, daß sich in der Geschichte Perioden, in denen die Leidenschaften vorherrschen, mit solchen abwechseln, in denen die Interessen vorherrschen. Die Geschichte des Mai '68 ist die Geschichte einer Leidenschaft, die sich im Spiel der Interessen aufrieb.

Foto: Demonstrationszug in Paris, Mai 1968: Hedonistische und individualistische Begierden ließen sich schlecht durch eine Revolution befriedigen

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