© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/08 09. Mai 2008

Die radikale Linke hält Heerschau
Extremismus: Auf einem Kongreß an der Berliner Humboldt-Universität schwärmen die Erben der 68er von gestern und bereiten sich auf die "letzte Schlacht" vor
Clemens Taeschner

Unter dem programmatischen Titel "40 Jahre 1968 - Die letzte Schlacht gewinnen wir" hat die Humboldt-Universität zu Berlin am ersten Mai-Wochenende all jenen ein Podium angeboten, die noch immer danach trachten, das System der Bundesrepublik zu überwinden. Verführerisch ist das legendäre Datum 1968 nicht von ungefähr, eignet ihm gegenwärtig doch eine heilsgeschichtliche Assoziation. Denn bekanntlich ist nicht nur das Volk Israels 40 Jahre durch die Wüste geirrt, bis es das verheißene Land betrat, auch die DDR als "erster sozialistischer Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden" rang 40 Jahre um ihre Existenz, bevor sie sich im vermeintlichen "Ende der Geschichte" auflöste. Daß dieses Ende nicht eingetreten ist, zeigt die Wiederkehr der Linken, die aktuell eine strukturelle Mehrheit besitzt. Die Realisierung ihrer Macht wäre demzufolge nur noch eine "Organisationsfrage". Wie zutreffend dieser Befund scheint, zeigt sich anhand der Diskussionen und Vorträge, die den linksradikalen 68er-Kongreß dominieren.

So gibt es Workshops über die "Aktionsformen 1968 und heute" oder die "Transformation der Demokratie" von Johannes Agnoli, dem legendären italienischen Politikwissenschaftler, der vom Mussolini-Bewunderer zum Wortführer der Apo konvertiert war. Wahlweise wird auch ein Podium zum Thema "Bambule machen" mit Linkspartei-Mitglied Diether Dehm angeboten oder eine Veranstaltung im Senatssaal mit der Bundesvorsitzenden der Jusos, Franziska Drohsel, über "Die Organisationsfrage damals und heute". Die Rote Hilfe läßt da grüßen, ist doch der Stadtsoziologe Andrej Holm mit von der Partie, der wegen seiner mutmaßlichen Unterstützung der linken Terrorzelle "militante gruppe" (mg) zeitweise in Untersuchungshaft saß. Er leitet eine Diskussion über die "Entwicklung Kritischer Wissenschaften von 1968 bis heute". Katja Kipping vom Bundesvorstand der Linkspartei diskutiert derweil, wie man - gemäß Che Guevara - "zwei, drei, viele Vietnams" schaffen kann. Dabei repräsentiert genau jenes verkürzte Zitat besser als jedes andere, welch mörderische Idee sich hinter der vom Guerillaführer propagierten Figur des "neuen Menschen" und der damit verknüpften linken Gesellschaftsutopie verbirgt. Immerhin offenbart der Originalsatz eine geradezu messianische Erlösungsphantasie: "Wie glänzend und nah wäre die Zukunft", so in der von Gaston Salvatore und Rudi Dutschke übersetzten Schrift Guevaras von 1967, "wenn zwei, drei, viele Vietnams auf der Oberfläche des Erdballs entstünden, mit ihrer Todesrate und ihren ungeheuren Tragödien."

Gleichwohl gehört das Konterfei der linken Popikone und Heiligenfigur Che ebenso zu den plakativen Köpfen des Kongresses wie das Porträt Lenins. Mit dessen Motiv, ergänzt um die Angabe "10 Millionen Tote für die gute Sache", hatte eine 20köpfige Gruppe namens "Konservativ-subversive Aktion" den Auftakt des Kongresses gestört, um gegen dessen Ausrichtung zu protestieren (siehe den Artikel auf dieser Seite).

Als endlich das Kongreßbanner gehißt ist, brandet Beifall auf. Dessen Zitat entstammt einem Lied der links-anarchistischen Band Ton Steine Scherben ("Aus dem Weg, Kapitalisten / Die letzte Schlacht gewinnen wir / ... / Die rote Front und die schwarze Front sind wir"). Wie aussichtlos diese Kämpfe womöglich dennoch sind, zeigt der erste Auftritt. Ein Aktivist aus Bremen begrüßt die "Genossinnen und Genossen", indem er sogleich auf die "Konservativ-subversive Aktion" zu sprechen kommt. Bemüht, sich der Legitimation zu versichern, macht er den Protest zum Zeugnis der eigenen Relevanz: "Es scheint, daß wir noch wahrgenommen werden." Schnell wird dann noch auf die Büchertische verwiesen, die eine "ganze Menge spannendes Theoriematerial" bereithalten. Doch die dort ausgebreiteten Thesen sind so sterbenslangweilig wie der Eröffnungsvortrag von Gisela Notz. Sie rekapituliert noch einmal die Errungenschaften der Frauenrechte. Obschon ihre Rede die Vitalität und Brillanz eines Volkskammer-Vortrags besitzt, hebt unter dem vorwiegend jugendlichen und gebildet dreinschauenden Publikum ein gewaltiger Schlußapplaus an.

Der Berliner Sozialwissenschaftler Alex Demirović freut sich derweil auf die Zeiten, wenn die Linkspartei in der Lage sein wird, Berufungen an "ihre" Leute auszusprechen. Gleichwohl sei dann "sehr viel Takt, sehr viel Verstellung nötig", um die eigenen Forschungsprojekte genehmigt zu bekommen. Wie offen hier die Unterminierung des Systems propagiert wird, ist bemerkenswert. Selbstkritisch aber stellt Demirović sich die Frage, ob die Universität überhaupt noch der richtige Ort sei für die "Produktion eines gesellschaftlichen Bewußtseins" - unvermittelt setzt stakkatoartiger Beifall ein.

Anschaulich wird dieses Bildungsverständnis noch am selben Abend. In der Diskussion "Gesiegt? Gescheitert? Was bleibt von 1968?" sitzt der anti-totalitäre, aber immer noch linke Historiker Gerd Koenen auf dem Podium, der durch seine 2001 veröffentlichte Abrechnung über "Das rote Jahrzehnt" zwischen 1967 und 1977 heftige Debatten ausgelöst hatte. Als darauf hingewiesen wird, daß er 1975 seine Promotion zugunsten "revolutionärer Betriebsarbeit" abgebrochen hat, bricht heftiger Applaus los. Was das Publikum allerdings empört, ist Koenens Fazit von '68 .

1968 sei "keine revolutionäre Situation" gewesen, sondern der dem Zivilisationsbruch folgende Generationsbruch. Sie, die "Kinder des Golden Age", hätten damals versucht, zwischen Ost und West einen "Dritten Weg" zu entwerfen. Als er assoziativ an die verunglückten Begriffe "Drittes Rom", "Dritte Welt" oder "Drittes Reich" erinnert, beginnt es zu rumoren. Später versucht Lucy Redler noch einmal auf das "revolutionäre Subjekt" zu sprechen zu kommen, scheitert aber.

Nach der Veranstaltung ist alles wieder auf Anfang. Ein älterer Besucher erklärt punktum: "Warum müssen die linken Intellektuellen das immer nur so kompliziert machen?" und weiter: "Der Sozialismus ist das einzige System, das direkt am Menschen ansetzt. Marx-Lektüren sind ja ganz schön, aber wozu noch, die Situation ist doch ganz klar: Wir müssen das kapitalistische System angreifen!"    

Foto: Flugblattaktion zum Kongreßauftakt: "Revolutionäre Situation"

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