© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/08 09. Mai 2008

Enttäuscht von Europa
Serbien: Bei den Parlamentswahlen geht es ums Kosovo und die Frage "Näher an Brüssel oder Moskau?"
Nikola Živkovic

Am 11. Mai finden in Serbien entscheidende Parlamentswahlen statt. Die zwei politischen Lager spaltet dabei die Frage der zukünftigen Kooperation mit der EU. Weitgehende Einigkeit herrscht hingegen beim Thema Kosovo - dessen Unabhängigkeit wird von fast allen Parteien abgelehnt. Nur 19 von 27 EU-Ländern haben den neuen Ministaat bislang anerkannt. Nicht nur Rußland und China, sondern "die meisten Länder der Welt" hätten dies nicht getan, betont Regierungschef Vojislav Koštunica immer wieder stolz.

Brüssel will Serbien dennoch auf einem "europäischen Weg" halten. Die vorige Woche verkündete Einigung der EU-Außenminister, das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) mit Serbien zu unterzeichnen, ist ein starkes Signal. Alle Umfragen zeigen, daß die große Mehrheit der Serben für den EU-Beitritt ist. Aber zugleich glauben die meisten Serben, daß dies zu spät kommt und ihnen wenig bietet. Zudem soll es erst in Kraft treten, wenn Serbien vollständig mit dem sogenannten UN-Kriegsverbrechertribunal - dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien/TPIY - zusammenarbeitet.

Koštunica hält den Vertrag für "Betrug", er solle nur dazu dienen, Serbien zur Anerkennung eines unabhängigen Kosovo zu drängen. "Die EU bedroht direkt die Souveränität und Verfassungsordnung Serbiens", so der nationalkonservative Politiker. Seine Demokratische Partei Serbiens (DSS) lehnt ein unabhängiges Kosovo strikt ab mit dem Argument: Welches Land wäre bereit, freiwillig auf einen Teil seines Territoriums zu verzichten? Und wenn sogar einige EU-Staaten das Kosovo nicht anerkannt haben, warum sollte Serbien es tun? Die beiden Koalitionspartner, die Demokratische Partei (DS) und die wirtschaftsliberale Partei G17 Plus, setzen hingegen weiter auf die EU - und so setzte Koštunica vorgezogene Neuwahlen an. Das SAA unterzeichnete daher Vizepremier Božidar Đelić - was die DSS nicht anerkennen will.

 "Serbien spielt eine zentrale Rolle bei der Sicherstellung von Sicherheit, guten nachbarschaftlichen Beziehungen und funktionierender regionaler Kooperation auf dem Westbalkan", heißt es in einem aktuellen Bericht der EU-Kommission. Deshalb versucht Brüssel seit langem, die Pro-EU-Kräfte in Serbien zu stärken und den Einfluß Rußlands - dem das christlich-orthodoxe Land seit Jahrhunderten eng verbunden ist - zurückzudrängen.

Viele Wähler in Serbien sehen das als Einmischung, und mit der Anerkennung des Kosovo ist die "Schutzmacht" Rußland wieder auf dem Balkan präsent. Der Angriff auf Serbien richtet sich auch gegen ihr Land, meinen viele Politiker in Moskau, das sich unter dem scheidenden Präsidenten Wladimir Putin als Verteidiger slawischer Interessen versteht.

Der neue Staat Kosovo wirft daher die "serbische Frage" wieder auf. Denn außerhalb der Zehn-Millionen-Republik Serbien leben in Bosnien-Herzegowina ("Republika Srpska"), aber auch in Kroatien und Montenegro weitere zwei Millionen Serben. Aber auch die "albanische Frage" ist mit der Anerkennung Kosovos nicht gelöst. Ein Großteil des albanischen Volkes lebt außerhalb des 3,4-Millionen-Staates Albanien: 50.000 in Montenegro, 60.000 in Griechenland, 70.000 in Serbien - und mindestens 400.000 in Mazedonien sowie 1,8 Millionen im Kosovo. Von einem "Großalbanien" wird daher heute nicht in Tirana, sondern vor allem in Priština (Prishtinë) geträumt.

Das könnte die serbischen Radikalen (SRS) stärken. Ihr Spitzenkandidat Tomislav Nikolić hält ein Zusammengehen mit der DSS für wahrscheinlich. Beide Parteien besäßen schon jetzt mit 128 von 250 Abgeordneten eine Mehrheit im Parlament. Der bisherige Wirtschaftsminister Mlađan Dinkić von der westlich-liberalen G17-Partei hofft hingegen zusammen mit der DS von Präsident Boris Tadić, der im Februar im Amt bestätigt wurde, auf eine neue, EU-freundliche Mehrheit. Derzeit kommen sie lediglich auf 83 Sitze. Die Sozialisten (SPS) des verstorbenen Ex-Präsidenten Slobodan Milošević stellen derzeit 16 und die LDP von Čedomir Jovanović, die als einzige die Abspaltung des Kosovo voll anerkennt, 15 Abgeordnete.

Verschiedene Umfragen sagen derzeit eine rechnerische Mehrheit aus SRS, DSS und SPS voraus. Die Frage ist nur, wie hoch der Sieg sein wird - und wie die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Partner funktionieren kann. Sollten es über 55 Prozent werden, dann ist eine grundlegende Veränderung in der jetzigen Politik Belgrads zu erwarten: die Herstellung enger Beziehungen mit Moskau - bis hin zum Ersuchen um russische Militärhilfe. "Was die Ablehnung der Unabhängigkeit Kosovos betrifft, besteht in Serbien nahezu vollständige Einigkeit ", erklärte kürzlich Nikolić.

 "Die Führung des Kosovo und die UÇK sind in meinen Augen Kriegsverbrecher. Sie haben unter der Nato-Besatzung fast die gesamte nicht-albanische Bevölkerung vertrieben, über 150 christliche Kirchen und Klöster zerstört." Der SRS-Führer warnt zudem: "Die Unabhängigkeit des Kosovo wird den Traum eines 'Großalbanien' anheizen und den Balkan weiter destabilisieren." Dennoch betonen Nikolić wie auch Koštunica, sie wollten ein "nach allen Seiten" - nach Westen wie nach Osten - offenes Serbien.

Dem setzen DS und G17 vor allem die Verheißung EU-Mitgliedschaft entgegen. Dem einstigen "jugoslawischen Brudervolk" in Slowenien geht es in der Tat mehrheitlich gut - der Euro ist dort inzwischen Landeswährung. Doch Serbiens Nachbarland Bulgarien ist das glatte Gegenbeispiel. Allein die Tatsache, daß noch immer bulgarische Saisonarbeiter auf serbischen Feldern oder auf den Baustellen in Belgrad arbeiten, spricht Bände. Die Einreise in die EU ist für Serben noch immer schwieriger als etwa für Türken. Einst stand hingegen mit dem jugoslawischen Paß fast die ganze Welt offen.

So macht sich auch im "EU-Lager" um Präsident Tadić Enttäuschung breit. Der 2003 ermordete Premier Zoran Đinđić und später Tadić hatten fast alle Forderungen aus Brüssel oder Washington erfüllt: fast die gesamte alte Staatsspitze nach Den Haag ausgeliefert und grundlegende Reformen in der Wirtschaft und der Armee eingeleitet. Inzwischen sitzen anglo-amerikanische "Berater" im Verteidigungsministerium, im Generalstab, im Geheimdienst und in vielen weiteren Institutionen. Selbst bei Ministerernennungen gab es nachdrückliche "Empfehlungen".

Die LDP und eine Vielzahl von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sowie verschiedene Medien vertreten ganz unverblümt - dafür oft gut dotiert - ausländische Interessen. Die 78tägige Nato-Bombardierung von 1999 ist längst nicht vergessen. Und wenn nun der damalige Nato-Generalsekretär (und jetzige EU-Chefdiplomat) Javier Solana klar und deutlich Tadić und Jovanović unterstützt, dann dürfte das ihnen bei den unentschiedenen Wählern eher schaden als nutzen. Auch das "Camp Bondsteel" bei Uroševac (Ferizaj) im Kosovo, das zu einer der größten US-Militärbasen in Europa gebaut wird, ist ein Thema bei den Wahlen. Die desolate Wirtschaftslage und die enormen sozialen Probleme treten dahinter scheinbar zurück. Dennoch dürften auch sie die Wahlen beeinflussen - zu wessen Gunsten, ist nicht absehbar.

Foto: Serben protestieren gegen Abspaltung des Kosovo: Angst vor "Großalbanien" und Destabilisierung

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