© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/08 09. Mai 2008

Krebsschaden der Freiheit
Von zufriedenen jungen Herren: Ortega y Gasset und die Feinde jeglicher Elitenbildung
Günter Zehm

Man spricht hierzulande wieder über Eliten. An den Universitäten Essen und Duisburg ist extra ein gemeinsamer Lehrstuhl für Eliteforschung geschaffen worden, den zur Zeit Michael Hartmann einnimmt. Bücher erscheinen wie soeben von Julia Friedrichs "Gestatten Elite" (Hoffmann und Campe, Hamburg), welche sogar Bestsellerhöhen erklimmen. Vergangene Woche gab es auf dem TV-Kanal "Phoenix" eine ausgedehnte Gesprächsrunde zum Thema.

All das ist durchaus bemerkenswert, denn die an den Schulen und in den Medien herrschenden 68er hatten das Thema jahrzehntelang streng tabuisiert. Es galt das Dogma, daß die Menschen in ihren geistgen Möglichkeiten vollkommen gleich seien und jede spezielle Eliteförderung etwa in der Erziehung demzufolge Sünde sei. Klassiker der Eliteforschung wie Pareto, Ortega y Gasset, Gaetano Mosca oder Robert Michels wurden als "Faschisten" bzw. "Krypto-Faschisten" verbellt, ihre Bücher an vielen Instituten faktisch sekretiert.

Wenn sich das jetzt allmählich ändert, ist das ausschließlich der Macht der Tatsachen geschuldet. Die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung mußten, ob sie wollten oder nicht, zur Kenntnis nehmen, daß die Komplexität moderner Wirtschafts- und Wissenschaftsprozesse eine hochdifferenzierte Leistungselite an den Schalthebeln dringend erforderlich macht. Und sie mußten weiter zur Kenntnis nehmen, daß der von den 68ern seinerzeit durchgedrückte Massenbetrieb an den Universitäten eine solche Leistungselite einfach nicht hergibt. Nun ist guter Rat teuer.

Die Schwierigkeiten gehen schon bei den elementarsten Begriffsbestimmungen los. "Leistungselite ja, Machtelite nein" - so schallt es zur Zeit aus sämtlichen Kanälen. Auch in der "Phoenix"-Runde einigte man sich schnell auf eine solche Formel. Man will Leistungsträger heranziehen, ist aber nicht damit einverstanden, daß diese dann gewisse Vorteile für sich in Anspruch nehmen, zum Beispiel vornehme Wohngegenden, "überhöhte" Gehälter, privilegierten Zugang zu bestimmten Zirkeln, zu Medien und teuren Schulen für die Kinder.

Als ließen sich Leistung und Machtanspruch so ohne weiteres voneinander trennen! Wer mit guten Leistungen an die Schalthebel herangekommen ist, der will in der Regel auch zeigen, wie wichtig und mächtig er ist und daß er das Leben auch sonst von der besseren Seite zu nehmen versteht. Dergleichen wird sogar von ihm erwartet, die populären Medien verlangen es geradezu von ihm.

Auch steht ja der einzelne Leistende und Machtausübende nicht allein. Er hat Kollegen, mit denen er auf gleicher Augenhöhe verkehrt und mit denen er vitale Perspektiven und Interessen teilt. Er hat Kinder, die er auf allerbeste Schulen schicken möchte. Er hat Familienangehörige und Freunde, denen er gegebenenfalls zur Seite steht, wie sie auch ihm zur Seite stehen, wenn es darauf ankommt. Das alles summiert sich, verfestigt sich, auch wenn dabei von "Korruption" nicht im entferntesten die Rede sein kann.

"Elite" (das heißt: das Auserwählte, das Selektierte) kann niemals reine Leistungselite sein, sie ist immer auch Machtelite, also Beziehungsgeflecht, Netzwerk, Arkanwissen, Sprechen in "Codes", die nur der Dazugehörige versteht und die in bestimmten Situationen wie ein "Sesam öffne dich!" wirken. Gerade die Leistungselite ist machtbegierig, gerade ihr wohnt der Wunsch inne, sich von der Masse, auch wenn diese als demokratisch gewählte Mehrheit einherkommt, nichts vorschreiben zu lassen, sich sein Wissen und sein wissendes Handeln nicht kaputtmachen zu lassen "von Ignoranten, die keine Ahnung haben".

Der spanische Philosoph, Soziologe und Essayist José Ortega y Gasset (1883-1955), dessen 125. Geburtstag am 9. Mai nicht nur in seiner Heimatstadt Madrid gefeiert wird, sah im Machtkampf zwischen "wissender Leistungselite" auf der einen Seite und "der Masse" auf der anderen die Grundkomponente politischer Auseinandersetzungen im 20. und 21. Jahrhundert überhaupt. Wobei er unter "Masse" nicht etwa das "Volk" verstand, sondern ebenfalls eine Art "Elite", eine Art Selektion, wenn auch nicht von Leistungsfähigkeit, sondern von lauthals geäußerter Anspruchshaltung.

In Ortegas bekanntem Buch "Der Aufstand der Massen" von 1930 erscheint als großer Widerpart des Leistungsträgers nicht etwa, wie der Titel zunächst vermuten läßt, irgendein "kleiner Mann von der Straße", sondern es erscheint - "der zufriedene junge Herr", ein viertel- bis halbintellektueller Aufsteigertyp, der sich selber keineswegs für "Masse" hält, sondern felsenfest davon überzeugt ist, etwas Besonderes zu sein, und das auch jeden, der es vielleicht gar nicht wissen will, wissen läßt.

Dieser zufriedene junge Herr ist nach Ortega der eigentliche Feind moderner haltbarer Elitebildung. Er will in allererster Linie "modern" sein, auf der Höhe des Zeitgeistes. Deshalb macht er blindlings jede Mode mit, die ihm die Medien vordemonstrieren. Er ist nicht bereit, sich über einen Tatbestand gründlich zu informieren, glaubt jedoch, überall mitreden zu können.

Seine Beziehungen zu den Mitmenschen, besonders zu denen des anderen Geschlechts, sind "sachlich", "cool", würde man heute sagen, ohne Eros. In erotischen Dingen gibt er sich extrem freizügig, reagiert überaus empfindlich, wenn man ihm ethische Auflagen machen will. Das ist zentraler Teil des "Aufstands", den er ununterbrochen gegen die Leistungseliten inszeniert.

Das Tragische ist: Nicht nur der wissende Leistungsträger, sondern auch jener zufriedene junge Herr ist, wie Ortega herausarbeitet, ein Produkt und Erbe großer abendländischer Kulturtradition, deren Wurzeln er allerdings nicht mehr kennt und der er sich in keiner Weise mehr verpflichtet fühlt. Die zivilisatorischen Früchte dieser Tradition genießt er aber in vollen Zügen, er betrachtet das als sein "gutes Recht". Er verlangt wie selbstverständlich absolute soziale Sicherheit, ja, kontinuierlichen sozialen Zuwachs, empfindet es hingegen als "reaktionäre" Zumutung, wenn man ihm gewisse gesellschaftliche Verpflichtungen abverlangt. Er hält sich selbst für das Maß aller Dinge und verfolgt mit Haß jene, die ihn in diesem Glauben wankend machen wollen.

Und so formuliert Ortega (1930!) die Folgen, die aus dem Aufstand des zufriedenen jungen Herrn entstehen: "Daß sich Regierungen im Zeichen des Liberalismus nach der Decke des zufriedenen jungen Herrn strecken müssen, weil er ja der typische Wechselwähler ist und letztlich über die Zusammensetzung der Parlamente entscheidet, ist der Krebsschaden der Freiheit. Denn zur Erhaltung dieser Freiheit bedarf es großer, unentwegter Leistungen, aber wie kann man große Leistungen erwarten, wenn man es mit einer Masse zufriedener junger Herren zu tun hat? Wie kann man da eine Elite des Dienens aufbauen, die unsere in vielem so bedrohte Gesellschaft doch so bitter nötig hätte?"

Besser kann man es nicht sagen. Leistungseliten ("Eliten des Dienens") könnten nur gedeihen, wenn es unseren Politikern gelänge, die zufriedenen jungen Herren im Zaum zu halten. Aber unsere Politiker gehören ja selber zu diesem Typus.

Literaturempfehlung: José Ortega y Gasset,  Der Aufstand der Massen, Deutsche Verlags-Anstalt, gebunden, 224 Seiten, 19,90 Euro

Foto: Elite: Wer mit guten Leistungen an die Schalthebel der Macht gelangt ist, der will in der Regel auch zeigen, wie wichtig und mächtig er ist

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