© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/08 16. Mai 2008

Die Finanzkrise ist ein Zeichen des Abstiegs
USA: Der unipolare Moment, den die "einzige Weltmacht" nach dem Kalten Krieg genossen hat, ist zugunsten wirtschaftlicher Mächte vorbei
Elliot Neaman

Mit der sogenannten Subprime-Krise im Frühsommer 2007 hatte alles begonnen. Denn das Platzen der US-Immobilienblase führte wegen des globalisierten Finanzmarkts zu weltweiten Verlusten und Insolvenzen. Doch zum Verständnis dessen muß man weiter zurückgehen, nämlich bis zur letzten größeren Rezession, als der Boom der neunziger Jahre mit der Börsenkorrektur von 2000/01 ein jähes Ende fand. Im Frühjahr 2000 platzte die Dotcom-Blase, besser gesagt: Sie verlor allmählich an Luft, nachdem vor allem die Aktienkurse der "New Economy"-Firmen zuvor aufgrund von Spekulation ungeheuer in die Höhe geschnellt waren.

Damals entstand unbemerkt eine neue Blase, denn Investoren flüchteten aus dem Aktien- in den Immobilienmarkt. Begünstigt wurde dies durch die raschen Zinnsenkungen, zu denen sich die US-Notenbank (Fed) wegen Rezessionssorgen gezwungen sah. Sieben Jahre lang stiegen die Hauspreise in den USA - bis schließlich auch diese Blase platzte. Die Kreditgeber hatten ihre Anforderungen so stark gesenkt, daß selbst fragwürdige Käufer Darlehen erhielten. Als die Preise fielen und die Bankbilanzen plötzlich riesige Verluste aufwiesen, ließ die Hypothekenkrise nicht lange auf sich warten. Die Konsequenz war eine Kreditdrosselung, wie die Finanzwelt sie seit den 1930er Jahren nicht erlebt hat.

Auf jede Finanzkrise folgt ein öffentlicher Aufschrei, während die Politik bemüht ist, Sündenböcke auszumachen, und die Lage mit neuen Regularien in den Griff zu bekommen sucht. Solche Behelfsmaßnahmen lösen die Probleme meist nur temporär oder verschlimmern sie sogar, bis aus einer völlig unerwarteten Richtung neues Unheil heraufzieht. Hier sei nur an den plötzlichen Zusammenbruch des texanischen Energiekonzerns Enron im Herbst 2001 erinnert. Der US-Kongreß sah sich genötigt, einen Untersuchungsausschuß einzusetzen und die Bilanzierungsregeln zu verschärfen. Enron wurde zum Menetekel sämtlicher Mißbräuche unregulierter Märkte. Dem Unternehmen wurde vorgeworfen, Investoren betrogen und Rentenfonds vernichtet zu haben.

Tatsächlich hatten die Buchhalter bei Enron Bilanzen gefälscht, um Verluste zu verstecken, indem man zum Beispiel Strohfirmen erfand, denen Verluste oder Phantasie-Profite zugeschrieben werden konnten. Manche dieser Taktiken waren legal, andere illegal, die meisten bewegten sich in einer Grauzone. Auch in der jüngsten Hypothekenkrise tauchten viele Subprime-Investitionen in den Bilanzen nicht auf - dank neuartiger Finanzinstrumente wie den Structured Investment Vehicles (SIV/außerbilanziellen Zweckgesellschaften). Banken verkauften gebündelte Kredite an Wall-Street-Firmen, nach allerlei Risikoumverteilungen wußte niemand mehr, wieviel alles wert war - bis das Kartenhaus einstürzte. Es war ein "Fall Enron II", aber mit viel schlimmeren Folgen.

Man könnte sagen, diese Art der Verbriefung als Wurzel des Problems zu betrachten, sei, als ob man die Schuld für eine verpfuschte Operation beim Skalpell statt beim Chirurgen suche. Die neuen Darlehensverfahren machten Millionen zu Hausbesitzern, die zuvor als kreditunwürdig galten. Die Ausfallquote bei diesen Krediten liegt immer noch unter fünf Prozent. Viele verschuldeten sich hoffnungslos. Viele andere aber schafften es, ihre Häuser und Wertpapiere zu behalten.

Andererseits ist nicht zu bestreiten, daß die US-Verbraucher sich in einen unverantwortlichen Kaufrausch stürzten. Beflügelt von billigen Krediten, der Bereitwilligkeit ausländischer Kreditgeber, ihre Reserven in Dollar zu belassen, und einem Konjunkturaufschwung, benutzten sie ihre Häuser wie Geldautomaten, indem sie Hypothekenkredite aufnahmen, um Neuwagen, teure Elektrogeräte oder Reisen zu finanzieren. Doch die Party ist vorbei, oder um eine Metapher aus der Finanzwelt zu bemühen: Wenn die Ebbe kommt, kann jeder sehen, wer nackt geschwommen ist.

Auf makroökonomischer Ebene haben die USA in den letzten zwanzig Jahren mehr Güter aus dem Ausland eingekauft, als sie verkauft haben. Vor allem die Asiaten haben Jahr für Jahr Schiffsladungen von Waren in die USA importiert und dafür kleine grüne Scheine mit Bildern amerikanischer Präsidenten erhalten. Diese "Greenbacks" stapeln sich nun vor allem in chinesischen Banken, und je größer die Haufen werden, desto mehr Einfluß hat China auf die US-Wirtschaft. 2006 lag das US-Handelsdefizit bei 800 Milliarden Dollar, etwa sieben Prozent der Gesamtwirtschaft. Überzieht ein Privatmensch seine Kreditkarten, bleibt ihm nichts anderes übrig, als seinen Konsum zu reduzieren, um die Schulden zu tilgen. Nicht anders funktioniert es auf nationaler Ebene - die Verbraucher werden also ihre Ausgaben drosseln, was beinahe unvermeidlich noch in diesem Jahr zu einer Rezession führen wird.

Solange der Markt brummte, waren Ausländer gerne bereit, US-Vermögenswerte zu kaufen, sowohl Immobilien als auch Aktien und Obligationen. Das Wachstum auf dem Immobilienmarkt begann sich 2006 zu verlangsamen. Im Folgejahr verzeichnete er landesweit Einbrüche um zehn bis zwanzig Prozent. Der Dollarkurs fiel gewaltig ab: 2002 kostete ein Euro 0,86 Dollar, vergangenen Monat waren fast 1,60 Dollar zu bezahlen. Da auf dem globalen Öl- und Gasmarkt in Dollar gehandelt wird, stiegen die US-Energiepreise noch steiler als in Europa an. Der Fall des Dollarkurses in Verbindung mit Agrarsubventionen zum Anbau von Mais für die Ethanolgewinnung ("Biosprit") löste eine weltweite Nahrungsmittelinflation aus und führte zu Engpässen beim Angebot von Getreide und Reis.

In den USA steigen Arbeitslosigkeit und Inflation. Die lange globale Wirtschaftsexpansion seit den frühen achtziger Jahren scheint an ihre Grenzen gekommen zu sein. Der einflußreiche Investmentbanker George Soros spricht in seinem neuen Buch "The New Paradigm for the Financial Markets" gar vom "Ende einer Ära" und prophezeit eine schwere internationale Finanzkrise, die die Weltordnung erschüttern wird.

Soros' pessimistische Einschätzung beruht auf der Tatsache, daß nicht nur die Verbraucherverschuldung ungekannte Ausmaße erreicht hat, sondern die Amerikaner auch kaum noch über Reserven verfügen: Die nationale Sparquote ist von zehn Prozent auf unter ein Prozent gefallen. Sie können auch nicht darauf hoffen, daß ausländische Investoren ihre Schulden finanzieren. Zunehmend gelten der Euro und der Yen als sicherere Investitionswährungen.

Damit sind die Zeiten vorbei, als die USA sich an der Spitze der Weltwirtschaftspyramide in Sicherheit wiegen konnten. Nicht nur China und Indien, auch die lateinamerikanischen Flächenstaaten lassen nun ihre wirtschaftlichen und damit verbunden ihre politischen Muskeln spielen. Der unipolare Moment, den die USA nach dem Kalten Krieg als "einzige Weltmacht" genossen, ist zugunsten konkurrierender Sphären wirtschaftlicher Macht vorbei.

Vielleicht ist Soros' apokalyptisches Szenario dennoch übertrieben. Freie Märkte erzwingen stets die Anpassungen, die Individuen ungern freiwillig vornehmen. Der Fall des Dollarkurses hat den Export beflügelt, da US-Waren billiger, Güter aus Japan oder Europa aber zum Schaden der dortigen Volkswirtschaften teurer wurden. Die Immobilienkrise wird viel wirtschaftliches Leid verursachen, doch nach einer Weile werden die Preise einen so niedrigen Stand erreichen, daß neue Käufer Haus- und Grundbesitz erwerben können. Geläutert von den zahllosen faulen Krediten werden Banken wieder strengere Darlehens- und Bürgschaftsverfahren einführen. Der Gesetzgeber wird einige Neuregelungen erlassen, die auch notwendig sind, denn die aus den 1930er Jahren stammenden Vorschriften für das Bankwesen sind angesichts der komplexen heutigen Märkte längst überholt. Doch auf jedes neue Gesetz folgen neue, raffiniertere Wege zu seiner Umgehung.

Nach wie vor ist die US-Wirtschaft die größte und dynamischste der Welt. Doch werden sich die Amerikaner an den unvermeidlichen Verlust ihrer Vorherrschaft gewöhnen müssen. Diese Einsicht begann mit dem Chaos im Irak und hat sich durch die Finanzkrise verfestigt. Kein anderer US-Präsident hatte je eine so niedrige Zustimmungsrate wie George W. Bush. Achtzig Prozent der Bürger sind der Meinung, ihr Land bewege sich in die falsche Richtung.

Auf den ersten Blick scheint die gegenwärtige Bankenkrise also mit lockeren Regulierungen und Subprime-Krediten zu tun zu haben. Hinter dieser offensichtlichen Realität spielt sich aber eine noch bedeutungsschwerere Geschichte ab - Amerikas gradueller, aber eindeutiger Machtverlust. Imperien implodieren in der Regel nicht mit einem Schlag wie 1991 die Sowjetunion, sondern für den Beobachter im Inneren nahezu unmerklich, bis eine Reihe von Ereignissen darauf hindeutet, daß der Prozeß abgeschlossen ist. Das letzte große Beispiel war das British Empire, dessen Untergang Ende des 19. Jahrhunderts mit dem wirtschaftlichen und militärischen Aufstieg des Deutschen Reiches begann. Zwei Kriege waren nötig, um Deutschland zu besiegen, das zur Weltmacht hätte werden können, hätte es nicht sehr dumme geopolitische Fehler begangen. Der Preis, den Großbritannien dafür zahlte, war der Verlust seines Weltreichs.

Die relevante Parallele liegt darin, daß Großbritannien unterging, weil es sich überschuldete, nicht zuletzt um diese beiden Kriege zu finanzieren. Augenfällig wurde sein Untergang in den 1940er Jahren, als die USA den Stab übernehmen und als Weltpolizei handeln mußten. Eine Umkehr der Entwicklung war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich. Womöglich erleben wir gerade den ebenso unvermeidlichen Übergang in eine post-amerikanische Weltordnung mit einer sehr ungewissen Zukunft.

Im Wahlkampf spielt dieses Thema bislang keine Rolle, denn die Präsidentschaftsanwärter können es sich nicht leisten, die Wähler mit bitteren Wahrheiten zu konfrontieren. Immerhin lautet die unmißverständliche Botschaft aller drei verbliebenen Kandidaten - bei Barack Obama und Hillary Clinton ebenso wie bei John McCain -, daß es beim Urnengang im November um Wandel statt um Kontinuität gehen wird. Ob die Geschichte Amerika diesen Wandel diktieren oder ob es in der Lage sein wird, über sein Schicksal wenigstens teilweise selbst zu bestimmen, das ist wohl die wichtigste Herausforderung, der sich diese imperiale Republik in Zukunft zu stellen hat.

 

Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt Neuere europäische Geschichte an der University of San Francisco. In der JF 11/08 schrieb er über die Bedeutung der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik für die US-Präsidentschaftswahlen.

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