© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/08 16. Mai 2008

In einer Welt von Feinden
Der Pariser Mai im Gegenlicht: Die französische Rechte stand 1968 auf beiden Seiten der Barrikaden
Karlheinz Weissmann

Xavier Jardin, ein französischer Politologe, der sich besonders mit Geschichte und Gegenwart der Rechten seines Landes beschäftigt, hat unlängst in einem Interview mit Le Monde die These aufgestellt, daß alles, was man als "neue Rechte" bezeichne, im Grunde eine Reaktion auf den "Mai '68" sei. Diese verbreitete Auffassung erklärt sich vor allem aus dem Bedürfnis der Gesellschaftswissenschaften nach systematischen Erklärungen und einfachen Ableitungen. Dabei zeigt eine genauere Untersuchung der historischen Zusammenhänge, daß die Entwicklung komplizierter war und jedenfalls nicht einem simplen Ursache-Wirkung-Schema folgte.

Der "rote Mai" stand am Ende einer etwa zehn Jahre dauernden, turbulenten, manchmal an den Rand eines Bürgerkriegs führenden Entwicklung. Begonnen hatte alles mit der Algerienkrise und dem Kollaps der Vierten Republik, und der Amtsantritt de Gaulles hatte sowenig wie die Gründung der Fünften Republik zu einer tatsächlichen Beruhigung der Lage geführt. Neben einer radikalen Linken, die seit "Befreiung" und "Säuberung" eine sehr starke Position besaß, entstand eine radikale antigaullistische oder "nationalistische" Fraktion, deren Anhänger zum Teil zu den Verlierern von 1945, vor allem aber zu denjenigen gehörten, die sich nicht mit dem Verlust des empire abfinden wollten.

Damals bildete sich im Milieu der französischen Gymnasiasten und Studenten eine "Szene" aus, die Verbindung zu diesem Flügel der Rechten hatte, aber eigene organisatorische Ansätze pflegte. Die waren oft kurzlebig und jedenfalls instabil, führten aber doch zur Entstehung von zwei deutlicher getrennten Strömungen: die "Ideologen" um die Zeitschrift Cahiers Universitaires, dann Europe Action und die "Militanten" des Mouvement Occident. Letztere zeigten eine auffällige Neigung zur "direkten Aktion", und im Quartier Latin kam es ab 1964/65 regelmäßig zu Scharmützeln zwischen "Kommandos" von Occident auf der einen, Anhängern der KP oder kleinerer trotzkistischer Gruppen auf der anderen Seite; einige Konflikte - wie der in Nanterre am 1. November 1966 - nahmen sogar den Charakter von Straßenschlachten an, die nur durch ein massives Polizeiaufgebot beendet werden konnten. Die Eskalation steigerte sich noch, als unter dem Druck der Anti-Vietnam-Propaganda der Linken die Nationalisten ihre Solidarität mit Südvietnam erklärten, so daß sich lange vor der "roten Woche" - zwischen dem 6. und 11. Mai 1968 - eine Atmosphäre des unversöhnlichen Hasses zwischen "fafas" und "bolchos" ausbreitete.

Beide Seiten betrachteten ihren Konflikt als Teil eines umfassenderen "Machtkampfes", der nicht nur gegen den Kontrahenten auf der Straße, sondern vor allem gegen das "System" geführt wurde. Trotzdem traf der Revolutionsversuch der Linken die Nationalisten unvorbereitet, und die Führung von Occident sah sich außerstande, geschlossen zu reagieren. Es gab unter den eigenen Leuten sogar eine Minderheit, die an der Seite der "gauchistes" die Barrikaden gegen das verhaßte Regime verteidigen wollte - neben denen, die bereit waren, mit den Ordnungskräften gegen sie vorzugehen. Im einen Fall glaubte man die linke in eine nationale Revolution umwandeln zu können - statt der schwarzen Fahne des Anarchismus die des Nationalismus mit dem Keltenkreuz -, im anderen, die antikommunistische Einheitsfront zu schaffen. Man versuchte, wie die Linke Gebäude der Universität zu besetzen und errichtete eigene Barrikaden, faktisch waren die Nationalisten aber orientierungslos, und Occident erholte sich nicht mehr von den Rückschlägen dieser Zeit. Die kleineren oder größeren Vergeltungsaktionen der folgenden Monate führten letztlich zum Verbot der Gruppierung am 1. November 1968.

Der harte Kern schloß sich Nachfolgeorganisationen an, die zum Teil bis heute existieren und einen nationalistischen und sozialistischen Kurs vertreten, der nicht nur gegen die Linke und die Mitte gerichtet ist, sondern auch gegen die "Nationalen" im Lager Le Pens. Obwohl längst ein Generationenwechsel stattgefunden hat, ist die Intransigenz nicht erloschen, sowenig wie die Entschlossenheit, in einer Welt von Feinden - die USA, die Linken, das Kapital, Israel, die EU - zu leben und auf den Tag zu hoffen, an dem der offene Kampf beginnt.

Eine politische Charakterkunde könnte unschwer die strukturelle Ähnlichkeit solcher Denk- und Verhaltensmuster mit denen auf der äußersten Linken, im Umfeld der diversen K-Gruppen und radikalen Klein- und Kleinstparteien, nachweisen. Fotos vom Gründungskongreß des Ordre Nouveau, in dem sich der größte Teil der Nationalisten zu Beginn der siebziger Jahre sammelte, erinnern schon optisch an Veranstaltungen der Neokommunisten aus dieser Zeit.

Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Wie auf der Linken gab es auch hier viele, die sich reumütig aus der Politik zurückzogen, und neben "Fundamentalisten" die "Realos". Vor drei Jahren erregte Frédéric Charpiers Buch über die "génération Occident" erhebliches Aufsehen, weil er nachwies, daß aus der Bewegung eine Reihe führender bürgerlicher Politiker hervorgegangen ist, darunter zwei Minister (Alain Madelin und Claude Goasguen) und ein Staatssekretär (Hervé Novelli).

Was den Mouvement Occident von der Gruppe um Europe Action vor allem unterschied, war das theoretische Desinteresse auf der einen, das theoretische Interesse auf der anderen Seite. Schon die Gründung der Zeitschrift durch Dominique Venner (Jahrgang 1935) und dann die Mitarbeit Alain de Benoists (Jahrgang 1943) waren ein Signal für die Distanz gegenüber dem landläufigen Nationalismus: Man war für Eu-ropa und gegen den französischen Etatismus, für Griechenland und die alten Götter und gegen die abendländische und die katholische Tradition. Zwar hielt der Kreis um Europe Action anfangs an der Vorstellung fest, Theorie und Praxis zu verknüpfen, aber nach dem Scheitern der Präsidentschaftskampagne für den Rechtspopulisten Jean-Louis Tixier-Vignancour 1965, und dem vergeblichen Versuch, eine eigene Partei des "progressiven" Nationalismus aufzubauen, vollzog Benoist den letzten Schritt weg von den alten Loyalitäten.

Nach der Einstellung von Europe Action und der Trennung von Venner gründete er mit einer kleinen Gruppe von Gesinnungsgenossen 1968 die Zeitschrift Nouvelle École, deren Titel schon die Ausrichtung andeutete: eine "neue Schule" im Sinn einer Denkgemeinschaft, die sich ausdrücklich an den Prinzipien kritischer Rationalität ausrichten sollte, um eine moderne rechte Weltanschauung zu begründen. Benoist hat im Rückblick darauf hingewiesen, daß er damals eine "positivistische Phase" durchlaufen habe, die Rede der klassischen Rechten von den "ewigen Gesetzen", auf die man letztlich vertrauen dürfe, für anachronistisch hielt, und versuchen wollte, zu einem "Nullpunkt" zurückzukehren, um die viertausendjährige europäische Überlieferung aufzunehmen, ohne einem der verbreiteten ideologischen Vorurteile zu folgen.

Es ist hier nicht der Ort, der weiteren Entwicklung nachzugehen, die vor allem im Januar 1969 zur Bildung des GRECE (Groupement pour la récherche sur la civilisation européenne) als organisatorischem Kern der später so genannten Nouvelle Droite ("Neuen Rechten") führte. Entscheidend ist allerdings, daß die Zielsetzung immer eine konsequent metapolitische blieb, was zwangsläufig zu wachsender Distanz gegenüber der "Alten Rechten" führte, die Benoist denn auch bis heute als "sogenannte Rechte" apostrophiert. Dahinter stand die Überzeugung, daß man der Linken und dem Liberalismus nur begegnen konnte, indem man sie auf ihrem eigenen Feld - der Kultur - bekämpfte und besiegte. Dieses Ziel zu erreichen, setzte einen langen Atem und die Bildung von sociétés de pensée voraus, geistige Gesellschaften, deren Bedeutung für die geistige Vorbereitung der Französischen Revolution einer der bedeutendsten Historiker der Rechten, Augustin Cochin, nachgewiesen hatte.

Benoist hat in einer Reflexion über den Mai '68 geäußert, daß er dessen Bedeutung für seine eigene Biographie gering veranschlage. Seine wichtigen politischen und weltanschaulichen Entscheidungen habe er vorher getroffen, und sein Weg könne insofern nicht als Reaktion auf die Erfolge der Neuen Linken gedeutet werden. Er bestreitet selbstverständlich nicht, daß die Hauptstoßrichtung damals gegen die Linke und ihren Egalitarismus gerichtet war, aber nur die Schärfe der Konfrontation habe verdeckt, wie stark im Grunde die Affinität zwischen der eigenen und der Kulturkritik der "Frankfurter Schule" gewesen sei und wie ausgeprägt eine ähnliche Stimmung, die sich nicht nur oder nicht einmal zuerst im Politischen äußerte, sondern in der Vorliebe für Platten von Joan Baez und Pete Seeger. Bob Dylans "The Times they are a-changin'" könne er bis heute nicht hören, ohne berührt zu sein.

Hier wird manches im nachhinein deutlich milder beurteilt als in der Situation von damals, aber auch eine Wahrheit ausgesprochen, die im Lärm des Kampfes überhört wurde. Die jungen Rechten von '68 gehörten zu derselben Alterskohorte wie die Führer der Achtundsechziger, aber Herkunft, Biographie und Bildungserlebnisse hatten sie in die Opposition zur Linken geführt, ohne daß sie deshalb bereit gewesen wären, dem bürgerlichen Lager beizutreten. Im schlechtesten Fall war ideologische Verranntheit die Folge, im häufigsten die übliche Anpassung, im besten eine neue intellektuelle Souveränität gegenüber den konventionellen Lügen der Kulturmenschheit.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen