© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/08 16. Mai 2008

Ein Ruhmesblatt der deutschen Demokratie
Die gesamtdeutschen Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche vor 160 Jahren
Stefan Scheil

Als das Jahr 1848 heraufdämmerte, da galt Deutschland sich selbst und seinen europäischen Nachbarn immer noch vorzugsweise als das Land der Dichter und Denker und der nationalpolitischen Stille. Das Deutsche Reich, mittlerweile zum Deutschen Bund mutiert, lag mehr oder weniger immer noch dort, wo es fünfhundert Jahre zuvor gelegen hatte. Verfassungstechnisch blieb es geteilt in Länder verschiedensten politischen Gewichts, miteinander verbunden durch ein föderales Netzwerk, das den herrschenden liberalen Zeitgeist zunehmend weniger zufriedenstellen konnte. So unternahm die Nation im europäischen Revolutionsjahr 1848 ihren ersten Anlauf, eine moderne und demokratische Einheit zu werden. Unter einem Aspekt sollte dieser erste Anlauf auch der letzte bleiben. Vor 160 Jahren fanden die ersten und einzigen allgemeinen, freien und im historisch gewachsenen Sinn gesamtdeutschen Wahlen statt, jene zur verfassunggebenden Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche.

Aus heutiger Sicht erstaunt zunächst die Geschwindigkeit, mit der dabei gehandelt wurde. Erst im März des Jahres trat unter dem Eindruck der in manchen Teilstaaten ausgebrochenen Revolution in Frankfurt ein Vorparlament aus Abgesandten der dort vertretenen Bundesstaaten zusammen. Bereits für Anfang Mai plante man den Zusammentritt des noch zu wählenden Parlaments, was angesichts des voraussetzungslosen Neuanfangs eine enge Terminsetzung darstellte. Tatsächlich konnte der Zeitrahmen mit wenig Verzögerung eingehalten werden Die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung fanden Ende April und Anfang Mai statt. Am 18. Mai 1848 trat die Nationalversammlung zusammen. Als stimmberechtigt galten bei der Wahl laut dem Beschluß des Vorparlaments alle volljährigen und selbständigen Männer. Diese Regelung gehörte zu den liberalsten in Europa, wurde aber in den einzelnen Staaten nicht ganz einheitlich gehandhabt. Preußen legte die Volljährigkeit mit vierundzwanzig Jahren fest und betrachtete wie die meisten norddeutschen Staaten nur die Empfänger von Sozialleistungen als unselbständig und damit nicht wahlberechtigt. Österreich, Bayern und Sachsen schlossen auch Dienstboten und Handwerksgesellen von der Wahl aus, wenn sie Wohnung und Kost vom Arbeitgeber erhielten.

Schon bei diesen Wahlen zeigten sich einige von den Schwierigkeiten, mit denen die deutsche Politik in den kommenden hundert Jahren zu kämpfen haben würde, so etwa die der gerechten Grenzziehung im Osten. Wer im Namen der Nation eine demokratische Verfassung durchsetzen wollte, mußte das Verhältnis zu anderen Nationen klären. Das Vorparlament hatte deshalb bei der Vorbereitung beschlossen, die Wahlen auf dem ganzen Gebiet des Deutschen Bundes durchzuführen, hatte aber auch die Eingliederung des bisher außerhalb des Bundesgebietes liegenden West- und Ostpreußen in den Geltungsbereich der neu zu schreibenden Verfassung empfohlen. Über das ebenfalls außerhalb des Bundesgebietes liegende Posen schwieg man sich weitgehend aus. So faßte die polnische Nationalbewegung dies als deutliches Signal dafür auf, daß Posen zu dem in Aussicht gestellten neuen polnischen Staat zählen würde. Als sich nichts in dieser Richtung abzeichnete, folgten Gewaltausbrüche.

Ganz entgegengesetzt lagen die Verhältnisse in Böhmen, das immer ein Teil des Deutschen Reiches und des Deutschen Bundes gewesen war, seit von beidem gesprochen worden war. Die tschechische Bevölkerung sollte nach dem Willen des Vorparlaments daher selbstverständlich Abgeordnete nach Frankfurt schicken, lehnte aber dankend ab. Auch in anderen slawisch bewohnten Regionen Österreichs fanden nur sporadisch Abstimmungen statt. So versuchten sich schließlich nach dem 18. Mai 1848 mehrere hundert gewählte, fast ausschließlich deutsche Abgeordnete in den Folgemonaten in Frankfurt an der Gründung eines funktionsfähigen deutschen Staatsverbandes.

Die Voraussetzungen dafür waren günstiger, als dies im nachhinein mit kritischem Blick auf das "Professorenparlament" und auf die scheinbar unvereinbaren Interessen Preußens und Österreichs oft dargestellt wurde.

Angesichts der unsicheren Zeiten und der kurzen Wahlphase hatte es für Außenseiter kaum eine Möglichkeit gegeben, sich durchzusetzen. Gewählt wurden daher durchgehend bekannte Persönlichkeiten mit lokaler Autorität. Aus diesem Grund wurde entsprechend von präsozialistischer Seite kolportiert, das allgemeine Wahlrecht sei eine Form der Konterrevolution. Tatsächlich verfügte das Parlament als eine Art "gewähltes Oberhaus" unter der Autorität eines habsburgischen Prinzen über beachtlichen politischen Rückhalt. Zudem zerfiel die österreichische Monarchie ähnlich wie später 1918 phasenweise recht umstandslos in ihre nationalen Bestandteile, so daß sich dort bis weit ins Jahr 1848 hinein eine ausgeprägte Bereitschaft erhalten konnte, den außerhalb des Deutschen Bundes liegenden Teilen des Habsburgerreichs die angestrebte Selbständigkeit zu lassen und Österreichs Heil in einer engeren Bindung an die neue deutsche Verfassung zu suchen.

Im reichhaltig bestückten Kalender bundesdeutscher Gedenktage spielen die Wahlen von 1848 heutzutage kaum eine Rolle. Den letzten großen Anlauf, daran etwas zu ändern, unternahm zum hundertfünfzigjährigen Jubiläum im Jahr 1998 der damalige Bundespräsident Roman Herzog. Mit Blick auf das geistige Erbe von 1848 forderte er unter anderem die Demokratisierung der Europäischen Union. Es kam bekanntlich ganz anders. Bis heute kennt die EU trotz aller Reformverträge und des erhobenen Verfassungsanspruchs nicht einmal ein gleichberechtigtes Stimmengewicht für ihre Bürger und fällt damit hinter den Standard des neunzehnten Jahrhunderts zurück. Das ist nichts völlig Neues. Die Zwänge der europäischen Politik hatten jederzeit ihren Anteil daran, daß die Wahlen von 1848 die einzigen groß- und gesamtdeutschen blieben.

Foto: Gedenkplatte für die gewählte Nationalversammlung an der Frankfurter Paulskirche: Vorbildhaft für die Europäische Union

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