© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/08 23. Mai 2008

Rechts ist, wo der Daumen links ist
Gemeinsame Front gegen Parlament und Kapitalismus: Die „Nouvelle École“ rückt Verzeichnungen zurecht
Karlheinz Weissmann

Als Alain de Benoist vor fünf Jahren den zweiten Band seiner Allgemeinen Bibliographie der französischen Rechten (Bibliographie générale des droites françaises, Coulommiers: Editions Dualpha 2004ff., mittlerweile sind vier Bände mit zusammen 2.500 Seiten erschienen) veröffentlichte, war ein Abschnitt Georges Sorel gewidmet. Er umfaßte mehr als siebzig Seiten und verzeichnete neben diversen Ausgaben der Schriften Sorels auch einiges an Sekundärliteratur. Daß Benoist ihn überhaupt in diesem Kontext aufführte, erklärte er mit der Entscheidung, sich für die Zuordnung zur „Rechten“ dem Konsens gefügt zu haben, da die praktische Durchführung einer Allgemeinen Bibliographie sonst vor unüberwindlichen Hindernissen gestanden hätte.

Daß Benoist weiß, was gegen diese Rubrizierung spricht, kann man leicht an der Art und Weise erkennen, in der er jüngst eine Reihe von editorischen Projekten durchgeführt hat, die sich mit Sorel beziehungsweise dessen Umfeld beschäftigen. Dazu gehört in erster Linie die Herausgabe der legendären Cahiers du Cercle Proudhon (Cahiers du Cercle Proudhon, Collection des Inactuels, Paris: Editions Avatar 2007), einer kleinen Zeitschrift, die nur mit fünf normalen und einer Doppelausgabe zwischen 1912 und 1913 erschien, aber deshalb von geistesgeschichtlicher Bedeutung ist, weil sie dem Gedankenaustausch zwischen der äußersten Rechten (den Royalisten der Action Française) und der äußersten Linken (den revolutionären Syndikalisten aus dem Umfeld Sorels) diente.

Der hier zum ersten Mal entwickelte Gedanke einer gemeinsamen Front jenseits von Rechts und Links mit dem Ziel der Zerstörung des parlamentarischen Systems und des Kapitalismus war allerdings nicht zu verwirklichen. Bezeichnenderweise sieht Benoist die Ursache dafür in der Unbeweglichkeit der Rechten, deren intellektueller Kopf Charles Maurras die Dynamik der großen sozialen und ideologischen Prozesse nicht verstanden habe. In einem detaillierten, mehr als hundert Seiten umfassenden „Vorwort“ erläutert Benoist nicht nur den historischen Zusammenhang, in dem die Cahiers entstanden, sondern auch die Gründe für dieses Versagen.

Dabei wird auch erkennbar, wem seine Sympathie in bezug auf das Projekt der Cahiers gehört: Edouard Berth, dem Meisterschüler Sorels, der in dessen Auftrag an der Redaktionsarbeit teilnahm. Berths lange vergessenes Hauptwerk „Les Méfaits des Intellectuels“ (mit einem Vorwort von Georges Sorel und einer ausführlichen Einleitung von de Benoist, Editions Krisis, Paris 2007), etwa: „Die Missetaten der Intellektuellen“, ist zuerst 1914, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, erschienen. Das Buch enthält eine linke Selbstkritik – insbesondere eine Abrechnung mit den Irrtümern des Anarchismus –, vor allem aber einen prinzipiellen Angriff auf die „plutokratische“ Ordnung, die Berth zu den wesentlichen Dekadenzsymptomen der europäischen Kultur rechnete. Seiner Meinung nach war eine Erneuerung nur möglich durch den Aufstand der „Produkteure“ gegen die „Intellektuellen“, jene Schichten, die mit ihren rationalistischen und hedonistischen Vorstellungen auch die Ideen des Sozialismus vergiftet hatten.

Der neuen Ausgabe der „Mesfaits“ wurde ein Text Berths vom Anfang der zwanziger Jahre beigegeben, der diesen Gedankengang fortführte. In Auseinandersetzung mit Pierre Drieu la Rochelle entwickelte er hier die Vorstellung, daß es eigentlich nur noch zwei denkbare Alternativen für Frankreich gebe: den Weg Karthagos (durch die Fortsetzung des Bündnisses mit den angelsächsischen Siegermächten) oder den Weg Roms (durch ein Zusammengehen mit den sozialistischen Zukunftsmächten Rußland und Deutschland), die Auslieferung an die Macht des Geldes oder das Vertrauen auf eine Ordnung, die von jenen „quiritischen Tugenden“ getragen wäre, die Sorel beschwor.

Sorel hatte Berth zur Veröffentlichung der „Mesfaits“ ermutigt, nicht zuletzt, weil er in dessen Text eine kongeniale Ergänzung seiner eigenen Arbeiten sah. Von denen ist „Réflexions sur la Violence“ („Über die Gewalt“) sicher die bekannteste, aber die geistigen Voraussetzungen dieses Buches lassen sich nur mit Hilfe anderer Texte Sorels nachvollziehen. Dazu gehört ohne Zweifel das erstmals 1905 veröffentlichte „Les Illusions du Progrès“ („Die Illusionen des Fortschritts“), das Benoist jetzt in einer neuen Reihe mit klassischen Texten des politischen Denkens wieder zugänglich macht (ergänzt um „L’ Avenir socialiste des Syndicats“, Einleitung von Yves Guchet, L’ Age d’ Homme, Lausanne 2007).

Die „Illusions“ beschäftigen sich mit den tieferen Ursachen der geistigen Fehlentwicklung und greifen dafür weit zurück, bis auf die „querelle des anciens et des modernes“, die ersten Fortschrittsideologien der Aufklärung, den Erfolg des Progressismus im bürgerlichen Zeitalter und die allgemeine Durchsetzung entsprechender Ideen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ohne den „tatsächlichen Fortschritt“ – den der technischen Erfindungen – zu leugnen, sah Sorel in diesem Prozeß doch letztlich nur Verfall, vor allem gekennzeichnet durch den Aufstieg der Mittelmäßigen und die Korruption aller Institutionen, von der Familie und der Schule bis zu Religion und Armee.

Die Dekadenz war das zentrale Thema Sorels und die Frage, ob jener „ricorso“, von dem Vico gesprochen hatte, noch möglich sei. Mit dieser Fragestellung war er an den Rand der sozialistischen Theoriebildung gedrängt, aber trotzdem wird man bei der Lektüre seiner Bücher immer wieder zu der Feststellung kommen, wie stark sich seine Argumentation im Rahmen der linken Debatten der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bewegte. Ohne diesen Hintergrund, vor allem die Auseinandersetzung um Revisionismus oder Antirevisionismus, die Rolle von sozialistischer Partei oder Gewerkschaft – im Französischen „syndicat“ – ist kaum zu verstehen, mit welcher Energie Sorel seine eigene Position entwickelte.

Diesem Vorgang und dessen Wirkung geht die jüngste Nummer der von Benoist herausgegebenen Zeitschrift Nouvelle École nach. Dokumentiert wird neben einem programmatischen Text Sorels über den revolutionären Syndikalismus auch eine Rekonstruktion seiner ideologischen Entwicklung (Yves Guchet). Zwei Beiträge befassen sich mit der Rezeption Sorels außerhalb Frankreichs: in Italien (Gian Biagio Furiozzi) und in Deutschland (Piet Tommissen, dessen Beitrag wegen seines Umfangs nur zur ersten Hälfte gebracht werden konnte, die zweite soll in der Folgenummer von Nouvelle École erscheinen).

Hier wie dort hat man Sorel ganz aus dem Kontext der Linken lösen wollen, indem man ihn als geistigen Vater des Faschismus beziehungsweise des Nationalsozialismus reklamierte. Derartige Verzeichnungen werden zurechtgerückt, wenngleich das Moment der Entfremdung zwischen Sorel und den Hauptströmungen der Linken unbestreitbar ist. Berth hat ihn deshalb in einem hier wieder abgedruckten Text den „Tertullian des Sozialismus“ genannt, Bezug nehmend auf jenen Kirchenlehrer an der Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert , der einerseits zu den Stiftern der abendländischen Theologie gehörte, andererseits durch seinen späteren Abfall zu den häretischen Montanisten der Verdammung anheimfiel.

Man könnte aber auch eine Art Selbstmißverständnis Sorels behaupten, der sich irrtümlich der Linken zurechnete, und ihn als „revolutionären Konservativen“ (Philippe Duval) reklamieren, wie das nicht erst Armin Mohler getan hat. Benoist pflichtet dieser Einordnung im Vorwort dieser Ausgabe von Nouvelle École bei und weist darauf hin, daß die Zeitschrift ihren Titel einer Formulierung Sorels verdankt, der davon sprach, daß es einer „Neuen Schule“ des Denkens bedürfe, um die großen Widersprüche der modernen Gesellschaft zu analysieren und Alternativen vorzuschlagen.

Nouvelle École, Georges Sorel (Nummer 57), Paris 2007, kartoniert, 160 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 20 Euro. Zu beziehen ist die Zeitschrift über 41 rue Barrault, F-75013 Paris oder E-Post: nouvelle-ecole@labyrinthe.fr

Foto: Georges Sorel (1847–1922): Der französische Sozialphilosoph gilt als Vordenker des Syndikalismus

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