© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/08 23. Mai 2008

Die sanfte Gleichschaltung
Mythenbildung im Korporationswesen: Das Schicksal der Studentenverbindungen im Nationalsozialismus nach 1933
Christian Vollradt

Anfang Juni 1933, ein knappes halbes Jahr nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“, erließen die „Beauftragten der NSDAP für die studentischen Verbände“ zwei Richtlinien, in denen sich die Auffassung des Parteiführers und Reichskanzlers Adolf Hitler „hinsichtlich der Übereinstimmung“ der traditionellen studentischen Korporationen „mit dem Willen der nationalen Revolution“ widerspiegelte. Erstens sollten alle Dachverbände der verschiedenen Verbindungen ihre bisherigen „parlamentarisch-demokratischen Einrichtungen“ ausschalten und ganz im Sinne der nun geltenden Weltanschauung „sich zu einem eindeutigen Führerprinzip bekennen“. Führer eines Verbandes aber, so die zweite Richtlinie, solle nur jemand werden, dessen „nationalsozialistische Weltanschauung erprobt und verbürgt ist“.

Alle mitgliederstarken Dachverbände – ob die der Landsmannschaften oder Corps, Turner-, Sänger-, Burschenschaften oder der konfessionellen Verbindungen – haben diese Forderungen nach und nach umgesetzt. Teils aus Überzeugung, teils aus Opportunismus oder von der Hoffnung bestimmt, auf diese Weise eine weitestgehende Eigenständigkeit bewahren zu können, wurde damit ein Prozeß der allmählichen Gleichschaltung in Gang gesetzt, bei der die Übergänge zwischen Freiwilligkeit und Zwang häufig fließend waren.

Während in den Schriften der Korporationsverbände im Rückblick auf diese Ära eher der Aspekt der Repressionen betont wird, denen sich die Bünde von nun an ausgesetzt sahen, gelten diese in der verbindungskritischen Literatur von jeher als „Wegbereiter“ des Nationalsozialismus. Belege lassen sich für die eine wie die andere These finden.

Inhaltliche Übereinstimmungen zwischen der NS-Bewegung und den Korporationen gab es schon vor der Machtergreifung. Aus eigenen Stücken hatten die meisten Verbände bereits in den zwanziger Jahren die Mitgliedschaft von Juden in ihren Reihen ausgeschlossen, waren zudem nationalistisch bis völkisch ausgerichtet. Die größte Distanz wiesen noch die Corps sowie die katholischen Verbindungen auf; erstere wegen ihrer gesellschaftlich-elitären Distanz gegen die „Volksgemeinschafts“-Schwärmer, letztere wegen religiöser Vorbehalte.

Dabei gilt, daß der Nationalsozialismus von der gesamten akademischen Jugend schon früher und in stärkerem Maße als von der deutschen Gesamtbevölkerung als politische Option aufgefaßt worden war. Der 1926 gegründete Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund (NSDStB) erzielte bei den Wahlen zu den Allgemeinen Studentenausschüssen (AStA) der Universitäten bereits im Jahr 1930 ein Gesamtergebnis von über 34 Prozent (bei den Reichstagswahlen im September 1930 hatte die NSDAP 18,2 Prozent); im Jahr 1932 stieg der Stimmenanteil noch einmal auf fast 48 Prozent – und das bei einer durchschnittlichen Wahlbeteiligung von siebzig Prozent. Zu dieser Zeit erhielten die Nationalsozialisten von keiner anderen gesellschaftlichen Gruppierung ein so großes Maß an Zustimmung. Das mag zum einen an der besonderen Empfänglichkeit der Studenten für radikale Ideen liegen. Andererseits hat aber auch „die deutsche Studentenschaft von 1918 bis 1933 wie keine andere gesellschaftliche Gruppe im Staat unter einem permanenten wirtschaftlichen Notstand gelitten“, wie der Historiker Michael Kater feststellte. Parallel waren in der Schlußphase der Weimarer Republik die Studentenzahlen kontinuierlich gestiegen, von 52.831 (männlichen) Studenten 1925 auf 84.518 im Jahre 1931. Prozentual vergrößerte sich jetzt auch der Anteil angehender Akademiker, die der Arbeiterschaft oder dem Kleinbürgertum entstammten.

Noch Anfang 1933 verfügte der NSDStB nur über 6.250 Mitglieder an allen wissenschaftlichen Hochschulen insgesamt, was einem Anteil von etwa drei Prozent aller Studenten entsprach. Demgegenüber erfaßten die traditionellen Korporationen Anfang der dreißiger Jahre mit ihren 71.400 studierenden Mitgliedern über die Hälfte aller männlichen Studenten. Trotz dieses Zahlenverhältnisses konnte der NSDStB bald die wesentlichen Körperschaften an den Universitäten dominieren, nicht zuletzt weil seine Mitglieder hochschulpolitisch engagierter auftraten. Bereits 1930 warnte ein Mitglied der Akademischen Gildenschaft auf dem Studententag vor der „Gefahr des Überranntwerdens“. Aus „alter Selbstsicherheit“ dagegen nichts unternommen zu haben, nannte der amerikanische Historiker Geoffrey Giles das „schlimmste Versagen“ der Korporationen.

Der spätere Reichsjugendführer Baldur von Schirach hatte 1931 zum verdeckten Kampf gegen die studentischen Verbände geblasen, ihre „Unterhöhlung“ sowie das „Aufhetzen der Verbände untereinander“ gefordert. Damit sollte er zwei Jahre später Erfolg haben.

Eine NSDStB-Hochschulgruppe stellte im Juni 1933 fest, daß „die Verbände ein förmliches Wettrennen veranstalten, ihre Mitglieder bei uns anzumelden“. In der Führung des NS-Studentenbundes saß zu dieser Zeit Oskar Stäbel, Mitglied einer Landsmannschaft, der zunächst das Ziel vorgab, den Korporationen eine „gewisse Eigenständigkeit“ zu gewähren, sie gleichzeitig aber in „nationalsozialistische Erziehungsgemeinschaften“ umzuwandeln.

Die Führung des Kyffhäuser-Verbandes der Vereine Deutscher Studenten (VDSt) übernahm im Frühjahr 1933 mit Gauleiter Wilhelm Kube, Oberpräsident von Berlin-Brandenburg, ein prominentes NSDAP-Mitglied. Unter seiner Ägide änderte der VDSt sogar seinen traditionellen Wahlspruch „Mit Gott für Kaiser und Reich!“ um in: „Mit Gott für Führer und Reich!“

Während bei den Landsmannschaften und Turnerschaften das „Führerprinzip“ reibungslos übernommen wurde, kam es beim Treffen des Kösener Senioren-Convents Verbandes (KSCV) zu chaotischen Verhältnissen, weil mehrere Corpsstudenten für sich in Anspruch nahmen, von der Partei mit der Führung des Verbandes beauftragt worden zu sein.

Der wichtigste Zusammenschluß katholischer Verbindungen, der Cartellverband (CV), hatte noch im Jahr 1932 die vom deutschen Episkopat erklärte Unvereinbarkeit von katholischem Glauben und NSDAP-Mitgliedschaft übernommen. Unter dem Eindruck der Zustimmung der Zentrumspartei zum Ermächtigungsgesetz am 28. März 1933 hatten die Bischöfe öffentlich erklärt, ihre „Verbote und Warnungen“ vor den religiös-sittlichen Irrtümern des Nationalsozialismus „als nicht mehr notwendig betrachten zu müssen“. Daraufhin setzte auch der CV seinen Unvereinbarkeitsbeschluß außer Vollzug. Bereits am 8. Mai 1933 hatte der Führer des NSDStB einen „alleinigen Bevollmächtigten zur Regelung der Angelegenheiten des CV“ ernannt, der sich auf einen geheimen Plan zur Durchführung der Gleichschaltung hatte verpflichten müssen. Neben der auch in den anderen Verbänden erfolgten Übernahme von „Führerprinzip“ und „Arierparagraph“ wurde beim CV die Gleichschaltung vollends sichtbar, als im Januar 1934 sein traditionelles Wesensmerkmal, das Konfessionalitätsprinzip – und damit die Bezeichnung „katholisch“ – aufgegeben wurde.

Die politisch profilierten Burschenschaften bestätigten nicht nur ihren NS-loyalen „Führer“ Otto Schwab, sondern sahen in der „Gleichschaltung“ geradezu die Erfüllung ihres alten urburschenschaftlichen Ideals: die Zusammenfassung aller deutschen Studenten unter dem Dach eines einzigen Bundes. Daher hatte – bis auf eine aus dem Dachverband ausscheidende Opposition – die Deutsche Burschenschaft auch wenig Probleme damit, sich am 18. Oktober 1935 feierlich auf der Wartburg selbst aufzulösen und die Fahne der Urburschenschaft dem NS-Studentenbund zu übergeben. Im selben Monat folgten die Deutsche Landsmannschaft, die Deutsche Sängerschaft, der Weinheimer Seniorenconvent und der CV mit ihrer „Selbst“-Auflösung. Viele Verbindungen wurden in „Kameradschaften“ mit fester Organisationsstruktur umgewandelt.

Der Druck auf diejenigen, die an den gewachsenen Traditionen festhalten wollten, wurde schon vorher größer. Reichsjugendführer Schirach hatte am 20. Juli 1935 verfügt, daß alle „studierenden Mitglieder der mit unterstellten NS-Jugendverbände“ entscheiden müßten, ob sie einer Verbindung angehören wollen oder der Hitlerjugend. In einigen – wenigen, aber durchaus spektakulären – Fällen war es sogar zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Korporierten und NS-Anhängern gekommen. In Göttingen ereignete sich bereits 1934 ein Zusammenstoß von tausend Studenten, nachdem Nationalsozialisten die Bundesfahnen mehrerer Verbindungen gestohlen hatten; um die Unruhe zu beenden, griff die SS ein.

Daß gerade die bereitwillige Anpassung von Korporierten an die nationalsozialistische Ideologie im Laufe der Zeit auch bittere Enttäuschungen hervorbrachte, davon zeugt ein Tagebucheintrag des 1944 hingerichteten Widerstandskämpfers und Diplomaten Ulrich von Hassel, der dem exklusiven Corps Suevia Tübingen angehörte: „Gerade die alten, einst begeisterten Nazis unter den Korpsbrüdern (sic!) sind jetzt völlig umgewandelt und von tiefstem Mißtrauen erfüllt. Sie setzen bei allen Parteischritten von vornherein das Gegenteil von Integrität und von Wahrheitsliebe voraus.“

Interessanterweise findet diese subjektive Einschätzung eine Bestätigung von eher unerwarteter Seite. In einem der „Deutschland-Berichte“, die die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (Sopade) in ihrem Prager Exil herausbrachte, hieß es im Oktober 1936: „Die entschiedensten Gegner der Nazis sind die Korps (sic!) und Burschenschaften. Denn gerade ihre alte Tradition will man treffen und beseitigen. Und in dem Kampf um die Erhaltung dieser Tradition sind sie derart fanatisch, daß sie, wenngleich reaktionär, es ablehnen, mit den Nazis irgend etwas zu tun zu haben.“ Dies traf sicherlich nicht auf alle Verbindungsmitglieder zu, wohl aber auf jene, die vom wachsenden Gleichschaltungsbestreben des Regimes enttäuscht waren. Sein Ziel, die Korporationen zu ersetzen, um dadurch selbst die einzige „Verbindung“ zu werden, konnte der NSDStB nicht erreichen. Zwar hatte er die überlieferte Form der Bünde organisatorisch zerschlagen, etwas Bleibendes jedoch nicht geschaffen. „Er verbot viel und bot wenig“, so das Resümee Geoffrey Giles’.

Foto: Kameradschafter in Berlin nach einer illegalen Mensur 1943: Vielfach bereitwillige Anpassung an die nationalsozialistische Ideologie, auch wenn man an alten Traditionen festhielt und Ernüchterung folgte

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