© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/08 30. Mai 2008

Pankraz,
R. Lamprecht und der bedächtige Richter

Unvergessen der Schreckensruf der DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley, als sich nach der Wende 1989 die ersten Konsequenzen der deutschen Wiedervereinigung abzeichneten: "Wir dachten, wir kriegen Gerechtigkeit, statt dessen kriegen wir den Rechtsstaat." Es war der Enttäuschungsschrei einer notorischen Idealistin, die zur Kenntnis nehmen mußte, daß auch im Rechtsstaat nicht alles streng nach den Sätzen ewiger, gleichsam göttlicher Gebote abläuft, daß gerade im Rechtsstaat ausgesprochen kleine Brötchen gebacken werden.

Soeben ist bei der DVA in München ein Buch erschienen, das jenen historischen Schrei der Bohley aufnimmt und gewissermaßen profaniert: "Die Lebenslüge der Juristen. Warum Recht nicht gerecht ist". Seinem Autor Rolf Lamprecht, einem ehemaligen Gerichtsreporter des Spiegel, ist es freilich nicht um das Warum zu tun, sondern einzig um das Wie. Er reiht Fallbeispiele aneinander, die alle (angeblich oder auch wirklich) zeigen, daß es in der hiesigen Rechtsprechung drunter und drüber zugeht und am Ende äußerst selten "Gerechtigkeit" herauskommt.

Aber was heißt Gerechtigkeit? Der Begriff geht vom Bild der Waage aus, auf der alles miteinander ins Lot, in die Symmetrie gebracht wird: die Schuld mit der Sühne, das Wegnehmen mit dem Zurückgeben, die Beleidigung mit der Entschuldigung. Doch das Leben als solches ist nun mal nicht im Lot. In ihm herrscht nicht Symmetrie, sondern Asymmetrie, und es kann immer nur darum gehen, die Asymmetrie einigermaßen erträglich zu gestalten und sie einigermaßen wohlproportioniert aussehen zu lassen. Mehr ist nicht drin.

Bärbel Bohley, in der DDR aufgewachsen und von ihr sozialisiert, war an Gerichte und an Richter gewöhnt, die immer voll "recht" hatten, an deren Sprüchen es keinen Zweifel gab. Nur orientierten sich diese Gerichte und diese Richter nicht an der Gerechtigkeit, sondern am Willen der Partei. Er allein war oberstes Gesetz, aus dem alle anderen herausflossen und auch schlimmste Gewalttaten rechtfertigten. Der Rechtsstaat, so mußte Bohley nun lernen, kann nicht einfach den Willen der Partei durch die göttliche Gerechtigkeit ersetzen. Gottes Wille ist nicht eindeutig, er bedarf der Auslegung durch bedachtsame Richter.

Ein Richter im Rechtsstaat ist kein Vollzugsbeamter wie in der Diktatur, sondern er ist eine Art Philosoph oder Theologe, der etwas erforscht, zumindest erspürt, was vorher nicht da war. Gewiß, er hat die Welt der Paragraphen und Gesetzesbücher, an die er sich halten kann und halten muß. Aber auch noch so viele Paragraphen können nicht sämtliche Valeurs eines jeweils aktuellen Falles abdecken. Deshalb ja die Notwendigkeit der Auslegung, deshalb überhaupt das Amt des Richters, der niemals, noch von keiner Kultur, als bloßer "Paragraphenhengst" gesehen wurde, dem immer auch eine Aura übersinnlicher Macht zugebilligt wurde.

Natürlich darf man nichts schönreden. Auch Richter sind nur Menschen, manchmal sogar besonders "allzumenschliche", die als Beamte nach oben kommen wollen und dabei buchstäblich über Leichen gehen, sich korrumpieren lassen, dem gerade herrschenden Zeitgeist hinterherlaufen und sich bei den Medien Liebkind machen. Die meisten von ihnen sind wahrscheinlich überzeugte Anhänger des sogenannten Rechtspositivismus, jener simplen und überaus bequemen, entlastenden Lehre, wonach ein "Gesetz" nichts weiter sei als das, was der Staat als solches "gesetzt" habe, und basta.

In dem Buch von Lamprecht erscheinen die Richter und darüber hinaus die Juristenschaft in toto in einem durchweg negativen Licht. Es sind aufgeblasene Trottel, wie sie einst Honoré Daumier gezeichnet hat, allesamt gefangen in einem existentiellen Grundirrtum, eben in dem Glauben, sie dienten der Gerechtigkeit. Man muß bei der Lektüre unwillkürlich an die Zustände im alten China denken, wo es üblich war, daß Leute, die vor Gericht erschienen, Kläger wie Angeklagte gleichermaßen, zunächst einmal durchgeprügelt wurden, zur Strafe dafür, daß sie es gewagt hatten, die hehre Justiz mit ihrem Kleinkram zu behelligen.

Demgegenüber wäre zu erinnern, daß der Richter - Daumier und anderen Karikaturisten zum Trotz - in der Geistesgeschichte eine ganz überwiegend positive Rolle spielt. Faktisch in allen Kulturen gibt es Märchen, Sagen und historische Überlieferungen, die das Bild vom "guten" Richter zeichnen, vom weisen, geistig überlegenen, die staatliche Obrigkeit listig bloßstellenden. Das Amt des Richters in alten Stammesgesellschaften war das primäre, kam dem des Oberpriesters gleich. Das Buch der Richter im Alten Testament rangiert zeitlich vor dem Buch der Könige.

Könige und Fürsten haben einst die Richter regelrecht von der Spitze verdrängt. Der neuzeitliche Konstitutionalismus hat das insofern korrigiert, als er den Richterstand ausdrücklich zur dritten Staatsgewalt neben Legislative und Exekutive erhob und ihm sogar ein gewisses Prä, eine gewisse Kontrollgewalt zumaß. Die Justiz sollte "unabhängig" sein. Nicht nur das Treiben der Exekutive, sondern auch die Legislative sollte sich dem Spruch höchster Richterinstanzen fügen müssen.

Wie in uralten Zeiten stehen bei uns also tatsächlich die Richter wieder an der Spitze der Herrschaftshierarchie. Über ihnen steht nur noch die Verfassung, deren "Hüter" sie sind. Freilich, ob sie damit der Gerechtigkeit dienen oder doch nur einer "Lebenslüge" (Lamprecht) anheimfallen, läßt sich schwer entscheiden. Auch in anderen konstitutionell verfaßten Staaten, in denen es keine geschriebene Verfassung gibt (zum Beispiel in Großbritannien), besitzt die Dritte Gewalt ein kontrollierendes Prä vor Legislative und Exekutive. "Im Namen der Gerechtigkeit", heißt es. Aber was ist Gerechtigkeit, ob aufgeschrieben oder nicht?

Mag sein, wir irren uns alle und stehen in der Lebenslüge, indem wir uns Richtern unterwerfen. Doch es gilt wohl auch: Lieber bedachtsam auslegende Richter als blindlings angreifende Gotteskrieger.

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