© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/08 30. Mai 2008

Wetterleuchten
Patin, Pionierin: Zum 80. Geburtstag von Agnes Varda
Martin Lichtmesz

Die französische "Nouvelle Vague" der späten 1950er und 1960er Jahre, die das internationale Kino revolutionierte, war zwar geprägt von einem verschworenen Männerbund - es war jedoch eine Frau, die den Debütfilmen von Godard, Chabrol, Malle und Truffaut um Jahre zuvorkam. Als "La Pointe courte" 1955 uraufgeführt wurde, war die Fotografin Agnès Varda gerade erst 27 Jahre alt. Ihr unabhängig produzierter Film war vom italienischen Neorealismus ebenso beeinflußt wie von der poetischen Tradition eines Jean Vigo. Philippe Noiret spielte seine erste Hauptrolle, den Schnitt übernahm kein Geringerer als Alain Resnais. "La Pointe courte" war so etwas wie das Wetterleuchten des jungen französischen Kinos, das parallel in der Redaktion der Cahiers du Cinema  ausgebrütet wurde.

Vardas nächster langer Spielfilm erschien, als die "Welle"  ihre stilprägenden Höhepunkte bereits hinter sich hatte: "Cléo de 5 à 7" (Cleo - Mittwoch zwischen 5 und 7, 1962) schilderte zwei Stunden im Leben der Schlagersängerin Cléo, die ungeduldig auf das Ergebnis einer Krebs-Untersuchung wartet. Zu Beginn hat ihr eine Kartenlegerin Unheil vorausgesagt. Cléos semidokumentarisches Flanieren durch Paris bekommt eine existentialistische Färbung.

Der fast ausschließlich auf der Straße gedrehte Schwarzweiß-Film gilt heute als prototypischer "Klassiker" der Nouvelle Vague. Dennoch war Vardas Umfeld eher im Bereich der intellektuellen Linken des "Rive Gauche", verknüpft mit Namen wie Chris Marker, Marguerite Duras und Jean Cayrol, angesiedelt. Vardas "feministischer" Ruf festigte sich mit "Le Bonheur" (1965), dem der deutsche Verleiher den zeitgeistigen Titel "Glück aus dem Blickwinkel des Mannes" gab. Der Film erzählte eine ewig aktuelle Geschichte mit neuen Akzenten: Ein glücklich verheirateter Familienvater verliebt sich in eine jüngere Frau, und bietet seiner Gattin an, das scheinbar verdoppelte Glück mit ihm zu teilen. Varda inszenierte die Idylle des Familienlebens mit ironisch übertriebener Emphase und führte damit die Illusionen ihres Protagonisten ad absurdum.

Vardas Filme wurden fortan selbstreflexiver, intellektueller, subversiver, aber auch schematischer in der Konzeption. Zwischen 1968 und 1970 arbeitete sie in den USA, stets nahe am Puls der Zeitströmungen. So drehte sie unter anderem eine Art Propagandafilm für die militante schwarze Bürgerrechtsbewegung Black Panthers und eine Dokumentation, in deren Mittelpunkt die Komponisten von "Hair" und Warhol-Superstar Viva! standen. Eine unbestätigte Legende erzählt, daß sie zu den wenigen Personen gehört haben soll, die bei Jim Morrisons Nacht-und-Nebel-Begräbnis am Pariser Friedhof Pére-Lachaise anwesend waren.

Auch in den siebziger Jahren drehte Varda vorwiegend Kurz- und Dokumentarfilme essayistischen Charakters. 1985 kehrte sie mit "Sans toit ni loi" (Vogelfrei, 1985) triumphal zum Spielfilm und zu den ursprünglichen Impulsen der Nouvelle Vague zurück. Die unprätentiös erzählte Geschichte der Landstreicherin Mona (die junge Sandrine Bonnaire in einer frühen Rolle) ist einer der eindringlichsten französischen Filmen der Dekade und neben "Cléo" Vardas bedeutendster Film. 1987/88 folgte ein "Dyptichon" mit Jane Birkin: "Kung Fu Master" und  "Jane B. par Agnès V." (Jane B ... wie Birkin), von denen ersterer skandalöses Potential hatte. Die Amour fou einer älteren Frau (Birkin) zu einem Teenager (Vardas Sohn Mathieu Demy) wäre in den Händen eines geringeren Regisseurs wohl zur peinlichen Katastrophe geraten - Varda jedoch inszenierte den Film mit Geschmack, Zurückhaltung und Empathie. "Jacquot de Nantes" (1991) war eine bewegende Hommage an Vardas 1990 verstorbenen Ehemann Jacques Demy - auch er kein geringer Exponent der Nouvelle Vague, auf dessen Konto Meilensteine wie "Les Parapluies de Cherbourg" (Die Regenschirme von Cherbourg", 1964) gehen.

Varda, die am 31. Mai achtzig Jahre alt wird, ist immer noch unermüdlich an der Arbeit. Regelmäßig dreht sie dokumentarische Essays, die von einer junggebliebenen Verspieltheit und Experimentierfreude zeugen. Profilierte Frauen sind in der Filmgeschichte selten, bedeutend gerade eine Handvoll: Leni Riefenstahl, Maya Deren, Vera Chytilová, Lina Wertmüller wären darunter. Agnès Varda nimmt in dieser Runde eine besondere Stellung ein. Mehr noch als die "Großmutter der Nouvelle Vague" ist sie heute Patin, Pionierin und Ikone eines Kinos aus weiblicher Sicht.

Foto: Regisseurin Agnès Varda: Kino aus dem Blickwinkel der Frau

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