© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/08 06. Juni 2008

Kolumne
Anlässe zur gründlichen Selbstreflexion
Klaus Motschmann

Die politische und wirtschaftliche Entwicklung der letzten Wochen hat - wieder einmal - den Widerspruch zwischen Erwartung und Erfüllung veranschaulicht. Dazu gehören, um nur einige Beispiele zu nennen, das politische und wirtschaftliche Chaos in Simbabwe, das Robert Mugabe, einer der großen Hoffnungsträger der 68er Ideologen, verbrochen hat. Die neue Apartheidspolitik in Südafrika, in wilder Schwärmerei als das "Neue Jerusalem" gefeiert, die sich in rassistischen Exzessen gegen Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten richtet. D azu gehört weiter das Verhalten der Berliner rot-roten Koalition im Bundesrat anläßlich der Abstimmung über den Lissabon-Vertrag oder die Nominierung Gesine Schwans zur Wahl des Bundespräsidenten.

Man sollte meinen, daß diese Ereignisse Anlaß genug für eine gründliche Selbstreflexion der intellektuellen Wegbereiter und langjährigenWegbegleiter auf diesem Irrweg politischen Denkens und Handelns sein sollten. Das ist aber nicht der Fall! Einige recht kritische Kommentare der letzten Zeit zu diesem offenkundigen Desaster rot-roter Politik und Publizistik sollten nicht zu der Annahme verleiten, daß sie Anzeichen für eine radikale Neubesinnung in der Einschätzung der politischen Kräfteverhältnisse sein könnten. Wenn zum Beispiel weithin die Meinung vertreten wird, daß mit der Linken keine verläßliche Außen- und Europapolitik betrieben werden könne, dann stellt sich die Frage, ob das überhaupt ein entscheidendes Anliegen der Linken ist. Ihr kommt es doch in erster Linie darauf an, durch "radikale gesellschaftliche Veränderungen" (früher sagte man präziser: Revolution) die notwendigen Vorbedingungen für eine solche Politik zu schaffen.

In dieser Hinsicht ist die Linke in der letzten Zeit gut vorangekommen - dank der kläglichen Rolle unserer "classe politique". Ein Musterbeispiel hat der Berliner Regierende Wowereit mit der Erklärung geliefert, daß er sich in seiner Amtsführung streng an den rot-roten Koalitionsvertrag halten wolle. So? Wer hat denn diesen Koalitionsvertrag ausgehandelt - und zwar so vertrauensselig, daß er es der Linken ermöglicht, den Koalitionspartner SPD wie einen Bären am Nasenring vorzuführen? Immerhin hat Wowereit erklärt, daß er die politischen Ambitionen seines Koalitionspartners in Zukunft genauer beobachten will. Ein kurzer Blick in den neuesten Verfassungsschutzbericht könnte ihm dazu erste wertvolle Hinweise geben.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste Berlin.

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