© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/08 06. Juni 2008

Filmen an unbestimmten Orten
Atomphysik: Die Darstellung einer schwedischen Forschergruppe über ein Elektron trickst die Heisenbergsche Unschärferelation aus
Michael Mann

Der Videoclip im Internet ist nur wenige Sekunden lang: Man sieht blaue, ineinander verschachtelte Ringe, die auf- und niedertanzen. Ein eher unspektakuläres Bild. Doch dazu ein elektrisierender Kommentar: "Hier wurde zum erstenmal ein Elektron gefilmt." Schwedische Forscher hätten das geschafft.

Das Elektron, jenes winzigkleine, unheimlich schnelle, punktförmige "Etwas" ohne Innenleben und extrem kamerascheu, dieses lächerliche Partikel zieht zu Milliarden als "elektrischer Strom" durch unsere Kupferleitungen. An der Universität in Lund haben Physiker um Johan Maurittson es mit ultrakurzen Lichtimpulsen traktiert und das Ergebnis des Experimentes in einem vierseitigen Aufsatz im hochangesehenen Physical Review Letters (www.atto.fysik.lth.se) publiziert. Die Nachricht ließ die Medien aufhorchen. "Sensationell", so der Kommentar. Doch für einen Laien ist das Experiment nicht mehr nachvollziehbar.

Freilich, einen Versuch ist es wert - wenn auch über Umwege. Der erste betrifft unsere Vorstellung vom Elektron: Die Materie besteht aus Atomen, diese wiederum aus Elementarteilchen wie dem Elektron. Und die Elektronen, Träger der negativen Ladung, umkreisen den Atomkern. Niels Bohr, der dänische Forscher, hat dieses Atommodell, das so amüsant ans Weltall erinnert, vor 95 Jahren entwickelt. Heute ist es nicht mehr gültig. Was sich so um und im Atom tummelt, ist extrem unanschaulich und nur noch beschreibbar mit den Formeln der Mathematik. Die Begriffe und Bilder unserer Sprache versagen oder führen in die Irre.

Denn die Physik hat seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine Revolution nach der anderen erlebt, die mindestens so einschneidend sind wie die Zerstörung des mittelalterlichen Weltbildes durch Galilei, Kopernikus oder Newton. Der Preis dieser Revolutionen: Die Anschaulichkeit im ganz Großen (Makrokosmos) und im ganz Kleinen (im mikrokosmischen, subatomaren Bereich) geht oft verloren.

Man versetze sich in das Jahr 1927 in einen Hörsaal in Leipzig. Vorlesung Physik. Die hält ein neuer Stern am Wissenschaftshimmel. Er ist nur 26 Jahre alt. Sein Name: Werner Heisenberg. Fünf Jahre später sollte er schon den Nobelpreis erhalten. Ein Student, er ist ziemlich verzweifelt, weil er sich das Elektron nicht vorstellen kann, fragt ihn: Warum kann man nicht einfach ein Mikroskop bauen, mit dem man sich das Atom angucken kann? Wenn das Gerät doch gut genug sei, dann sollte man doch sehen können, wie sich die Elekronen dort verhalten und wie der Atomkern geformt sei. Will man ein solches Mikroskop nicht bauen - weil es zu aufwendig sei? Oder kann man ein solches Mikroskop nicht bauen, weil uns etwas in den Naturgesetzen daran hindert?

Heisenberg bürstete den Studiosus keineswegs ab. Er findet die Frage durchaus sinnvoll. Die Antwort ist seine berühmte Unschärferelation, die er wenige Monate vorher formuliert hat. Eine knappe, einfach anmutende Gleichung. Sie besagt etwa folgendes: Es ist unmöglich, Ort und Geschwindigkeit eines mikrophysikalischen Teilchens mit absoluter Gewißheit zu bestimmen. Und: Je genauer der Ort bestimmt wird, desto unbestimmter ist seine Geschwindigkeit. Und je genauer die Geschwindigkeit bestimmt wird, desto unbestimmter ist der Ort. Keine noch so effizienten Instrumente werden daran jemals etwas ändern können. Die erkenntnistheoretische Folge: Unser Wissen von der Natur bleibt letztlich unscharf. Würde Heisenbergs Gesetz auch für unsere Alltagswelt gelten, so könnte das folgendes bedeuten: Ein Passagierjet fliegt über Berlin. Wenn uns die genaue Position des Fliegers bekannt wäre, könnten wir nicht herauskriegen, ob er sich gerade mit 1.000 oder mit einem Kilometer die Stunde fortbewegt und daher gleich auf dem Boden zerschellen würde. Ein Trost also, daß die Unschärferelation nur im Mikrokosmos greift.

Zurück zu Johan Mauritsson vom schwedischen Lund Institute of Technology. Wie gingen sie vor, um den Weg der Elementarteilchen zu verfolgen, nachdem sie aus einem Atom herausgelöst worden waren? Sie kombinierten ultrakurze Lichtimpulse mit einem stetigen Laserlicht. Die Physiker bezeichnen ihr Experiment als Quantenstroboskop. Mit einem Stroboskop kann man zum Beispiel den schnellen Flügelschlag eines Kolibris auch für herkömmliche Kameras und das menschliche Auge sichtbar machen. Wenn Lichtblitze den Vogel in der Frequenz beleuchten, die seinem Flügelschlag entspricht, entsteht ein scharfes Bild.

Ganz ähnlich funktioniert das von Mauritsson konzipierte Experiment: Das oszillierende elektrische Feld eines Infrarotlasers ionisiert Heliumatome, löst also Elektronen aus ihrer Hülle heraus. Weil das Laserlicht aus Elektronenperspektive jedoch relativ langsam schwingt, ist das Ergebnis alles andere als scharf. Ein seitliches elektrisches Feld lenkt die herausgelösten Elementarteilchen in Richtung eines Detektors. Die dort registrierten Positionen zeichnen ein Bild der Elektronen-Bewegung.

Mit zusätzlichen ultrakurzen Licht­impulsen gelang es den Forschern, das eigentlich unscharfe Bild auf dem Detektor zu schärfen. Nur 300 Attosekunden dauert ein solcher Lichtimpuls. Eine Attosekunde entspricht dem Trionstel Teil einer Sekunde. Ein Vergleich, um dieses winzige Zeithäppchen deutlich zu machen: Eine Attosekunde steht zu einer Sekunde im gleichen Verhältnis wie diese zum Alter des Weltalls.

Durch die Überlagerung der Daten vieler einzelner solcher Vorgänge entstand ein klares Bild des Quantenzustands eines Elektrons zu einem festen Moment des Laserschwingungszyklus. Der Clip, den die Forscher dann der Öffentlichkeit präsentierten, zeigt die Energieverteilung eines Elektrons. Also, etwas Essig im Wein: Es handelt sich nicht um einen Film im herkömmlichen Sinn.

Noch einmal zurück in den Hörsaal in Leipzig: Wir stellen Heisenberg die Frage: "Wie soll man sich denn ein Atom oder Elektron vorstellen?" Werner Heisenberg würde uns antworten: "Versuchen Sie es gar nicht."

Abbildung: Atomaufbau in schematischer Darstellung: Unser Wissen von der Natur bleibt letztlich unscharf

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