© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/08 13. Juni 2008

Pankraz,
der Buckelwal und die absolute Musik

Sensationelle Klänge und Bilder aus Molokai, einer kleinen Insel des Hawaii-Archipels. Dort erforscht eine Gruppe von Meeresbiologen und Ethologen um Professor Jim Darling das Verhalten der gigantischen Buckelwale, genauer: einer Gruppe von ihnen, die normalerweise vor den Küsten Alaskas lebt, aber einmal im Jahr über Tausende von Seemeilen hinweg nach Hawaii zieht, um sich dort zu paaren. Auf der Reise und vor der Paarung singen die männlichen Exemplare, sie singen fast ununterbrochen, und ebendiese endlosen Gesänge sind es, die Jim Darling und seine Kollegen interessieren.

Mit Hilfe von Sonargeräten und mit außerordentlicher Geduld erstellten sie in den letzten Jahren eine umfängliche Klangbibliothek der "Walmusik". Erstaunt stellten sie fest, daß die Wale keine vergleichsweise knappen akustischen Signale von sich geben, sondern ganze ausgedehnte Tonfolgen, die zudem anscheinend einer feststehenden Ordnung gehorchen und immer wieder im gleichen Takt, mit denselben, genau eingehaltenen Tonhöhen, Klangfarben, Fermaten und Geschwindigkeiten ausgestoßen werden.

Und das Erstaunen der Forscher wuchs, als sie realisieren mußten, daß sich die Wale auf diese Weise keineswegs über dies und das "informieren", sich nicht gegenseitig begrüßen und sich auch nicht, wie die Hirsche in der Brunftzeit mit ihrem Röhren, gegenseitig drohen und von den Weibchen vertreiben wollen. Die Wale, so kam vor Molokai allmählich zutage, "sprechen" nicht einfach miteinander, sondern sie machen wahrhaftig Musik! Sie tragen fest formatierte, in der Walwelt offenbar wohlbekannte Stücke vor, und zwar einzig, um damit den Beifall eines sachverständigen, wohlwollenden Publikums zu erringen.

Die durchschnittliche Dauer einer veritablen Walsymphonie, so fand Darling heraus, beträgt fünfundzwanzig Minuten, etwa so lang wie ein Klavierkonzert von Rachmaninow. Paarungswillige Weibchen reagieren angeblich überhaupt nicht auf den Vortrag eines derartigen Konzerts aus dem Rachen eines der angereisten Buckelwalbullen, sie haben eigene Sorgen. Von den Klängen angelockt werden lediglich andere Bullen, welche aber im Traum nicht daran denken, sich zornig auf den Sänger zu stürzen und ihn zu vertreiben. Der Solist und sein Zuhörer umschwänzeln sich vielmehr friedlich und stoßen dabei abwechselnd knappe Laute aus.

"Es ist etwa so", erzählt Darling, der als Taucher oft den Techtelmechteln beigewohnt hat, "als liefere der Ankömmling eine Musikkritik ab und als antworte der Solist darauf, nicht bockig-rechthaberisch, eher demütig und lernwillig. Der Kritiker stimmt jedoch nie seinerseits eine Melodie an, sondern entfernt sich nach einigen Minuten wieder, und der Sänger hält nun für eine ziemliche Weile die Klappe. Man hat den Eindruck, er analysiere die soeben gehörte Kritik."

Für Musikfreunde und Mu­sikhistoriker klingen solche Mitteilungen außerordentlich interessant, auch befremdlich. Bisher überwog in der Musikologie ja die Meinung, Musik sei an ihrem Ursprung gänzlich "praktisch" gewesen, ein Instrument der puren Information und Lebensbewältigung. Man brummte (und tanzte) ähnlich wie die Honigbienen beim sogenannten "Schwänzeltanz", mit dem den Stammesgenossen die Entdeckung und geographische Lage ergiebiger Nektarquellen bekanntgegeben wird. Musik in der menschlichen Urhorde war Dienst, Minnedienst oder Götterdienst. Man sang, um die Gunst der Weiber oder die Huld der Götter zu gewinnen.

Jetzt taucht eine völlig neue Theorie über den Ursprung der Musik aus den Tiefen der Weltmeere auf. Die Buckelwalmännchen machen, soviel scheint nach den Arbeiten der Forscher klar, keine Musik, um Weibchen paarungsbereit zu stimmen, und allem Kalkül nach verrichten sie auch keinen Gottesdienst. Sie brauchen nämlich gar keinen Gottesdienst, weil sie keine Götter brauchen. Und sie brauchen keine Götter, weil sie ohnehin längst im Paradies sind.

Wie dichtete einst Wilhelm Busch in seiner Geschichte vom "Weisen, welcher sitzt und denkt" ("Die Haarbeutel", 1878) über den Zustand vorgeburtlich-paradiesischer Existenz? "Eh' man auf diese Welt gekommen / Und noch so still vorliebgenommen, / Da hat man noch bei nichts was bei; / Man schwebt herum, ist schuldenfrei, / Hat keine Uhr und keine Eile / Und äußerst selten Langeweile." Just so ergeht es den Buckelwalbullen.

Man schwebt herum, hat wegen seiner Speckschicht immer eine gute Binnentemperatur, wegen seiner Größe keine Freßfeinde, und wenn man selber fressen will (man gehört zu den sogenannten Bartenwalen), braucht man nur den Rachen aufzusperren, und der nahrhafte Krill fließt von ganz allein in einen hinein. Die Kinderaufzucht überläßt man voll den Weibchen. Es gibt keine Revierkämpfe und keine Stammes-kriege zwischen eifersüchtigen Artgenossen. Man ist tatsächlich gänzlich schuldfrei und hat nicht die geringste Eile.

Nur mit dem Keine-Langeweile-Haben will es nicht so recht klappen. Man hat eben doch Langeweile, man muß irgendwie die Zeit totschlagen (welche im wahren Paradies gar nicht wahrgenommen wird) - und genau deshalb erfindet man auf den langen, gemächlichen Reisen zwischen Alaska und Molokai die Musik. Diese ist in ihren Modulationsmöglichkeiten unendlich und dennoch höchst abwechslungsreich, sie stiftet Kommunikation auf höchstem Niveau, sie gibt Anlaß zu Kritik und Selbstkritik, ohne daß man sich darüber tödlich in die Haare gerät.

Mit einem Wort: Die Musik ist der wahre Paradiesersatz, vielleicht überhaupt das Paradies. Und die Buckelwale von Molokai haben das als erste erspürt und sich ohne Wenn und Aber darauf eingerichtet. Wir Menschen können so etwas leider nicht (z. B. weil wir nicht im Ozean leben und keine Barten haben). Wir können den Buckeln höchstens mit Schiffsschraubengerassel und anderen Tonverschmutzungen ihre Musik verderben.

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