© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/08 13. Juni 2008

Quer zur veröffentlichten Meinung
Der Afghanistan-Entwicklungshelfer Reinhard Erös kritisiert die Besatzungspolitik des Westens
Günther Deschner

Seit 1979 tobt der bald dreißigjährige Krieg am Hindukusch: Nach sowjetischer Besetzung, Freiheitskampf gegen die Russen, anschließendem Bürgerkrieg und Taliban-Regime bestimmen jetzt Kampfhandlungen zwischen Taliban und internationalen Interventionstruppen sowie die Aktivitäten von Warlords und der Heroin-Mafia die politische Wirklichkeit in Afghanistan. Seit Januar 2002 versucht "die internationale Staatengemeinschaft", auch Deutschland, das Land zu stabilisieren. Wie erfolgreich ist dieser Einsatz bisher? Hat sich für die Menschen dort seither die Lage verbessert? Wer herrscht im Land? Was können Hilfsinitiativen zum Aufbau eines physisch und moralisch zerstörten Landes überhaupt leisten? Darauf eine Antwort zu geben, ist kaum jemand geeigneter als der Ex-Bundeswehroffizier Reinhard Erös.

Erös, geborener Bayer und gerade sechzig geworden, betreibt zusammen mit seiner Frau Annette und seinen fünf Kindern die "Kinderhilfe Afghanistan", die vor allem im unsicheren Osten des Landes und im pakistanischen Grenzgebiet humanitäre Hilfe leistet. Von 1967 bis 1972 war Erös Soldat und Offizier in der Fernspähtruppe der Bundeswehr. Nach Ende der Dienstzeit studierte er Medizin und später Politologie und trat 1982 erneut in die Bundeswehr ein, diesmal jedoch als Arzt. Er war Truppenarzt der Gebirgstruppe und später Lehrgruppenkommandeur an der Sanitätsakademie. Von 1996 bis 1998 war er Beauftragter des Inspekteurs des Sanitätsdienstes und Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr. Er ließ sich für seine Tätigkeit in Afghanistan erstmals im Februar 1986 unbezahlt beurlauben, zog nach Peschawar, um den Menschen in Afghanistan als Arzt zu helfen. Erös leitete eine Hilfsorganisation und versorgte in der "Illegalität", versteckt in den Höhlen von Tora Bora, Tausende Kranke und Verletzte. Seine Frau lebte damals mit den vier Kindern auf pakistanischer Seite in der Grenzstadt Peschawar, wo sie eine Schule für Flüchtlingskinder aufbaute. Osama bin Laden war in dieser Zeit ein entfernter Nachbar der Familie Erös.

Aus diesem Projekt entwickelte sich eine einzigartige Familieninitiative: Ausschließlich mit privaten Spenden errichtete sie seit dem 11. September 2001 über zwei Dutzend moderner Friedensschulen als Kontrapunkt zu den primitiven Koranschulen der Islamisten. Zudem entstanden Mutter-Kind-Kliniken, Waisenhäuser und Computerschulen in den gefährlichen Ostprovinzen.

Reinhard Erös, mittlerweile einer der gefragtesten Afghanistan-Experten, hat mit seinem jetzt erschienenen zweiten Buch die gelungene Fortsetzung seines Bestsellers "Tee mit dem Teufel" (2002) vorgelegt und die Lücke der vergangenen sechs Jahre geschlossen, in denen soviel in dieser krisengeschüttelten Region geschehen ist. Der Autor ist sich treu geblieben, schildert ungemein farbig seine persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen, gibt Zeitzeugen und Weggefährten Raum für lesenswerte eigene Darstellungen und schafft damit ein leuchtend buntes und zugleich erhellendes Kaleidoskop aus einem fernen Land, mit dem uns seit einem Jahrhundert eine freundschaftliche Beziehung verbindet.

Auch in anderer Hinsicht ist sich der "Alman Doktor Sahib" treu geblieben. Auch in diesem Buch kommt die schonungslose politische Analyse nicht zu kurz. Erös nimmt kein Blatt vor den Mund. Seine Thesen formuliert er hart und klar. Nicht jedem mag das gefallen, und manches liest sich quer zur veröffentlichten Meinung. Er beklagt die mickrige Entwicklungshilfe für Afghanistan - gerade mal 15 Prozent der militärischen Ausgaben. Selbst davon verschwinden laut Erös mehr als zwei Drittel im Gestrüpp von Bürokratie, Korruption und mangelhafter Kontrolle. Für Erös ist es keine Frage, daß ein "Marshall-Plan für Afghanistan" sinnvoller wäre als manche Formen des militärischen Engagements. Er schimpft auf die US-Regierung, die in Kauf genommen habe, daß aus den US-Soldaten, die einst als Befreier von den Taliban willkommen waren, inzwischen verhaßte Besatzer geworden sind. Schuld daran sei das "robuste" Vorgehen der Amerikaner, was im militärischen Fachjargon heißt, im Zweifelsfall werde zuerst geschossen und dann festgestellt, wen man getötet hat.

Auch über die in mancher Hinsicht unglückliche Rolle der Bundeswehr schüttelt er den Kopf. Sie komme nicht einmal im Kampf gegen den Drogenanbau voran: "Seit die Bundeswehr im Rahmen von Isaf und OEF (Operation Enduring Freedom, der Rez.) in Afghanistan eingesetzt ist, hat sich die Finanzierung des islamistischen Terrorismus durch den Drogenanbau in Afghanistan verzehnfacht."

Erstmals erzählt der frühere Oberstarzt der Bundeswehr in diesem Buch auch, daß es Berlin vielleicht in der Hand gehabt hätte, Osama bin Laden kurz nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zu fassen und den Krieg in Afghanistan zu verhindern. Fast minutiös beschreibt Erös, wie bin Laden, der sich in den Höhlen von Tora Bora verschanzt hatte, an Deutschland hätte ausgeliefert werden können, wenn Berlin die Geschichte nicht zu heiß gewesen wäre. Erös vermittelte den Kontakt zwischen dem Bundeskanzleramt und einem ehemaligen Mudschaheddin-Kommandeur, der bin Laden an Deutschland überstellen wollte. Doch Berlin winkte ab. "In fünf Tagen beginnt der Krieg. Er wird lange dauern. Schade, deine Regierung hätte ihn verhindern können", zitiert Erös seinen Gewährsmann, den Paschtunenfürsten "Commander" Hadschi Zamon.

Erös erzählt und läßt erzählen: seine Frau Annette zum Beispiel, die "Stabs-chefin" zuhause in Mintraching bei Regensburg. Sie berichtet von über 1.500 Afghanistan-Veranstaltungen, die die Familie Erös seit 2001 bestritten hat, von der großen Spendenwilligkeit der Landfrauen im bayerischen Wald und vom Geiz einer großen deutschen Wirtschaftsvereinigung. Zu Wort kommt aber auch ein Warlord, der tagsüber für die USA und nachts für die Taliban arbeitet, und ein Drogenbaron, der es auch schon mal mit Weizenanbau versucht hat, aber auf der Ernte sitzenblieb.

Sein Buch macht deutlich, daß Erös in ganz anderen Kategorien denkt als die Politiker und die Verantwortlichen von Isaf und OEF. Sein Erfolgsrezept: persönliche Bindung, gegenseitiges Vertrauen, Respekt vor der anderen Kultur. Das schützt besser als Polizei oder Militär. "Keine unserer bis heute gebauten achtzehn Schulen ist jemals von den bildungsfeindlichen Taliban angegriffen und zerstört worden." Afghanistan und seine Widersprüche, seine vielen Fronten - Erös liefert gute Gründe, warum es sich lohnen könnte, mehr für das vom Untergang bedrohte Land zu tun, als Soldaten, Panzer und Bomber zu schicken.

Reinhard Erös: Unter Taliban, Warlords und Drogenbaronen. Hoffmann & Campe Verlag, Hamburg 2008, gebunden, 365 Seiten, 19,95 Euro

Foto: Bundeswehrsoldaten in Afghanistan: Ein "Marshall-Plan" wäre sinnvoller als manche Formen des militärischen Engagements

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