© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/08 13. Juni 2008

Vergangenheitsbewältigung
Der Waschzwang der Söhne
von Rainer Gebhardt

Die Generation der heute über Achtzigjährigen kämpft ihren letzten Kampf. Und auch der ist aussichtslos. Es ist der Kampf mit den Söhnen. Noch auf dem Sterbebett müssen sie sich vorrechnen lassen, was sie auf dem Kerbholz haben. Selbst spät Beichtende werden nicht absolviert. Schon gar nicht, wenn ihrem Gedächtnis mit in Archiven schlummernden Karteikarten auf die Sprünge geholfen werden muß. Zu lesen ist da, daß Väter und Großväter, wenn auch keine ausgewiesenen Täter, so doch Mitglieder in der Partei der Täter waren. Elf Millionen Zettel bescheinigen elf Millionen NSDAP-Mitgliedschaften.

Der Publizist Walter Jens war Mitglied mit der Ordnungsnummer 9.265.911. Aber er hat es vergessen. Genauer: Er hat es verschwiegen, was 2003 ans Tageslicht kam. Verschwiegen wie viele andere. Der Sohn Tilman Jens ließ uns unlängst in der FAZ wissen, dies sei nicht einfach nur ein Vergessen oder Verschweigen gewesen, sondern jene "fatale Schweige-Krankheit", deren letztes Stadium die Demenz ist. Und die sei die späte biologische Rache für politisch inkorrektes Verhalten.

Die erweiterte Diagnose betrifft einen aus der Vätergeneration, der sich Adornos Verdikt "Es gibt kein richtiges Leben im falschen" - diesen vielleicht dümmsten Satz eines klugen Denkers - rigoros zu eigen gemacht. Wer das tut, der muß um der eigenen Rettung willen sein Leben in eine Fasson bringen, in der das als falsch Indizierte nicht nur keinen Platz mehr hat, es darf auch nicht geschehen sein. Das ist normal, gehört zum Überlebensrepertoire der Gattung wie des einzelnen. Denn so ist er nun mal, der Mensch, auch der gute. Nietzsche: "Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz. Und endlich gibt mein Gedächtnis nach."

Für den Vater, den sein Gedächtnis verlassen hat, spricht nun der Sohn. Der Sohn aber spricht nicht zu seinem Vater. Er spricht, wie es im linksverkorksten Diskurs üblich ist, über ihn hinweg, aus dem Off der Selbstgerechten. Und wie seit nun bald einem halben Jahrhundert macht er die Malaise seiner Generation - etwas nicht sein zu wollen, was man doch unabweisbar ist: deutsche Söhne und Töchter von deutschen Eltern - an der Katastrophe der Väter fest.

Doch 40 Jahre nach 1968 sind das keine pubertären Identitätsstörungen mehr. Eher ist es die bestürzende Erkenntnis einer Existenz im Schatten, die Vorahnung womöglich: Wenn dieser Schatten verschwindet, stehen auch wir im Nichts. Etwas salopper gesagt: wenn 50- oder 60jährige Söhne ihren Vätern noch immer den Quark von Schuld, Verstrickung und Versagen aufs Brot schmieren, dann stimmt etwas mit den Söhnen nicht.

Die Väter, schrieb Tilman Jens (FAZ vom 4. März 2008), "hätten es sich leisten können, freimütig und ohne Angst vor öffentlicher Schelte über ihre postpubertären Verwirrungen zu reden. Doch ach!" - sie weigerten sich. Warum aber sagten sie nicht das ersehnte "Siehst du, auch ich. So kann es passieren"? War es Scham? Und wenn ja, warum fragt der Sohn nicht danach? Und wenn es nicht Scham war, warum fragt er nicht, was einen Erzmoralisten wie Walter Jens dazu brachte, die eigene "Schande" statt an sich selber an denen abzuarbeiten, die die innere Wende vom kulturkämpfenden Pimpf zum stilsicheren Antifaschisten nicht so bruchlos schafften? Oder warum scheuten diese heute alten Männer jene Bewältigungsrituale, in denen man über alles reden kann, nur nicht darüber, wie Schuld und Schicksal ineinander verwoben sind?

Die Antworten darauf stehen nicht auf den Karteikarten. Vielleicht sollten wir gelegentlich mal die fragen, denen zu gestehen so schwer gewesen ist, vor denen ein mea culpa weder Gnade noch Verständnis gewärtigen konnte, jene Söhne also, denen an einem anderen als über den Generalverdacht der Verstrickung hergestellten Verhältnis zu ihren Vätern gar nicht gelegen war. Da ihr moralischer Maßstab ihr eigenes gutes Gewissen war, waren sie an persönlichen Antworten gar nicht interessiert und zelebrierten die immer gleiche Farce:

Zuerst wurde das Faktum der Schuld und danach die Frage nach Buße und Wiedergutmachung in die Debatte gebracht. Und weil man nicht verstanden hat, daß man einen geschlagenen Mann nicht auch noch demütigen kann, wurden wir Zeuge jener grotesken Satyrspiele, in denen die Söhne ihre Väter abwechselnd als brutale Trottel oder arme Irre vorführten.

Weil sich nach diesen 60 Jahren die individuellen Schicksale abgeschliffen, die persönlichen Biographien im Großen und Ganzen des Schlimmen aufgelöst haben, stehen heute die Niedertracht und Abartigkeit eines Höß und Mengele für eine ganze Generation.

Da bei dieser Prozedur so ziemlich jeder vors Tribunal gebracht wurde, der mitmarschiert war, selbst Männer des Widerstandes keinen Bonus hatten - in Freiburg ging es jüngst erst Gerhard Ritter an den Kragen, noch postum (JF 24/08) -, war es so unklug nicht, zur Seite zu treten, als die Aufarbeitungslokomotive ins Rollen kam. In solchen illusionären Bewältigungsstrategien war einer wie Walter Jens zu sehr bewandert, als daß er geglaubt haben könnte, hier ginge es um Klärung und Aufklärung. Sie liefen am Ende immer auf eine ebenso bedingungslose Vorverurteilung wie auf die nachträgliche Erpressung hinaus: "Ihr hättet es wissen können und wissen müssen!" Und wer hätte wissen müssen, für den gibt es nicht nur kein Pardon - er steht auch außerhalb des Diskurses.

Die Väter also. Und ihre "fatale Schweige-Krankheit, an der viele Köpfe zerbrachen". Dagegen nun der Sohn als Vertreter einer Generation, die auf der institutionellen Bewältigungswelle geritten sind. Die 60 Jahre nach der größten Katastrophe des deutschen Volkes noch immer in ihre Schattenkämpfe verliebt und weder willens noch in der Lage ist, sich auf das Politische oder die Nation einzulassen. Weil sich nach diesen 60 Jahren die individuellen Schicksale abgeschliffen, die persönlichen Biographien im Großen und Ganzen des Schlimmen aufgelöst haben, stehen heute die Niedertracht und Abartigkeit eines Höß und Mengele für eine ganze Generation. Das macht es einfach, jeden, der kein Opfer war, in der Täterkartei abzulegen.

Das Bild der Väter gehört dabei zu den Lieblingstopoi im Diskurs. Es ist nicht unbedingt das Bild realer Väter. Eher ist es ein ideologisch rundgelutschtes Emblem mit Attackefunktion, an dem sich die Guten erkennen und aus dem vor allem alte 68er ihre historische Unvermeidlichkeit ableiten. Von Anfang an formulierte das Väterbild eine Anti-Position, indem es den unüberbrückbaren Abstand zu jener Generation definierte, mit der man nichts zu tun haben wollte.

Daß man sich gleichzeitig von deren Schuldkonto bediente, um die eigene moralische Unfehlbarkeit zu belegen, bezeugt die Dialektik dieser verqueren Aufarbeitung. Nicht die Väter haben ihr Leben verschwiegen. Die Söhne mit ihrem Unfehlbarkeitsanspruch haben sie ins Schweigen geschickt. Wer von dort zurückkehrt, ist entweder ein Heiliger oder ein Verrückter. Gefährlich ist er nicht mehr. Nichts aber ist leichter, als den Platz von Heiligen oder Verrückten zu okkupieren.

Tilman Jens gehört zu einer Generation, die sich die Welt eingerichtet hat wie weiland ihr Jugendzimmer: eine Art Ikea-Kompositum aus lauter günstigen Prämissen und kompatiblen Versatzstücken. In dieser Welt paßt alles zu allem: Reflexzonenmassage mit Vergangenheitsbewältigung, Trommeltherapie mit Initiativen gegen Rechts, Töpferkurse mit Entwicklungshilfe, Eierdiät mit Friedensforschung, Selbsterfahrung mit Ostermarsch, Schuld mit Schande und Novalis und Nietzsche mit den Nazis. Schön bunt ist das. Und schön unverbindlich. Wie das ewige Selbstverwirklichungsspektakel einer nicht enden wollenden Pubertät.

Doch womöglich ist dieses Spektakel das einzige, was die ehemaligen Emanzipatoren in die deutsche Feierabendgesellschaft eingebracht haben. Das Mittelmaß ihrer politischen Personage jedenfalls läßt das vermuten. Hier tummelt sich, was woanders nicht hochkommt. Das ist zwar kein spezifisch deutsches Problem; deutsch daran ist die Lust an der Schuld. Ist die dann noch gepaart mit der Sucht, sich klein zu machen, und mit der Affektdurchlässigkeit des Büßers, muß man alle Hoffnung fahren lassen.

Besondere politische oder intellektuelle Qualifikationen sind hier nicht gefragt. Alles, was man vorweisen muß, ist dieser unheimliche Waschzwang, diese Fixierung auf den Antifaschismus. Mit dieser Profession kann man heute an alle Türen klopfen. Zu kritischer Distanz ist keinem zu raten, der hier mitmischen will. Auch nicht zu den Exerzitien ideologiefreien Denkens. Denn wo die Gedanken so tief hängen, muß man sich nicht besonders strecken. Es reicht, wenn man die paar Sprechblasen beherrscht, mit denen der Betrieb in Schwung gehalten wird: Erinnerungskultur, Vergangenheitsbewältigung, Aufarbeitungsauftrag, Verantwortungsinitiative usw. So sieht er aus, der wunderbare Waschsalon, in dem der Sohn die Biographie seines Vaters mal schnell im Entnazifizierungs-programm durchgespült hat.

Daß die Berufsbewältiger beklagen, zu viele Täter seien durch die Lappen gegangen, zuviel Schuld ungesühnt geblieben, ist das eine. Etwas anderes ist es, wenn den Söhnen die Vergangenheit ihrer Väter zum Anlaß wird, sich von der Verantwortung für sich selbst zu suspendieren. Fast könnte man meinen, Tilman Jens werfe dem Vater nachträglich vor, er habe ihn um ein pubertäres Schlüsselerlebnis gebracht. Ein Nazi-Vater, das wäre es gewesen, da hätte man für die persönliche Revolte noch ein überindividuelles Motiv gehabt. Aber so, mit einem Vater, der die öffentliche Instanz des Guten ist, wie sollte man gegen so einen aufmucken können?

Vielleicht will, wer das Leben einer ganzen Generation nur noch als braune Bremsspur lesen kann, sich nachträglich eine Abstammung verschaffen, ohne die die eigene Empörung nur halb so empört, die Betroffenheit halb so betroffen wäre.

Einmal - der Filius wußte noch nicht, daß der Alte "auch einer von denen war" -, hatte er durchblicken lassen, was er von kulturellen Übergrößen im allgemeinen und von Vätern im besonderen hielt. Da mußte einer, der dem Vater das Nonplusultra guter deutscher Kultur war, einstecken, was der Sohn dem Alten nicht zu sagen wagte. In "Goethe und seine Opfer" baute sich der Sohn einen Übervater nach seinem Gusto auf: einen bösen Goethe, einen Fürstenknecht, der zeitlebens nur Erbärmlichkeit und Untertänigkeit demonstriert und junge Helden wie Lenz und Kleist in die Hölle geschickt hatte.

Es ist nicht bekannt, wie der eigentliche Adressat der Suada den verdrucksten Anschlag parierte. Er wird ob seines Mittelmaßes erschüttert gewesen sein. Und genau das ist das Problem: das Mittelmaß der Söhne - in bezug auf alles. Auf Schicksal, Talent, Bedeutung.

Die Attacke gab wunderbare Kostproben davon, wie man eine Autorität auf Normalnull herunterpöbelt. Wie im Supermarkt greift man am besten nach dem Billigsten, zu Gerüchten und Mutmaßungen, zu übler Nachrede und engagierter Empörung. Hat man eine Autorität auf diese Weise erst mal ramponiert, kann man nicht nur ein betroffenes Gesicht dazu machen - man hat auch das Garn zusammen, mit dem sich die Masche endlos weiterstricken läßt.

So wird auch aus der Demenz des Vaters die deutsche Epochekrankheit. Und ganz nebenbei kann man noch an dessen Leiden partizipieren. Denn die individuelle Katastrophe reicht nicht, es muß die gesellschaftliche Malaise sein, die hier aus- und durchbricht und an der mitzuleiden der Sohn seinen Anspruch anmeldet. Man hat ein womöglich spannendes Leben mit all seinen Irrungen und Wirrungen nicht leben können - da will man sich wenigstens in dessen Erinnerungen einnisten dürfen. Oder eben in den Erinnerungslücken. Dort kann man über die Kränkungen spekulieren, die einem das Schweigen der Väter zugefügt hat. Diesem seltsam narzißtischen Monolog geht es weder um ein Wissen von noch um ein Wissen über die Väter. Man möchte eigentlich immer mit sich und über sich sprechen. Denn wohin das narzißtische Subjekt auch blickt - es sieht überall Spiegel, und in ihnen immer nur sich selbst.

Es ist eine Katastrophe, den Verstand zu verlieren. Aber absurd ist es, eine medizinische Diagnose zur Metapher vom schlechten deutschen Gedächtnis umzubiegen. Hier will ein Sohn, was der Vater nicht konnte: das ihm Unsagbare aussprechen, die drei, vier Jährchen öffentlich machen, in denen der Student Walter Jens - freiwillig oder nicht - NSDAP-Mitglied war. Nicht aus Rache. Aus Neugier auch nicht. Doch vielleicht will, wer das Leben einer ganzen Generation nur noch als braune Bremsspur lesen kann, sich nachträglich eine Abstammung verschaffen, ohne die die eigene Empörung nur halb so empört, die Betroffenheit nur halb so betroffen wäre. Wenn der Vater schon nicht sagen konnte: "Siehst du, mein Sohn, auch ich", so will der Sohn wenigstens sagen können: "Seht ihr: Auch mein Vater! Als ob wir es geahnt hätten." Wunderbares Erlösungsgefühl, zu dem man sonst nur auf der Couch oder im Angesicht des Heiligen kommt.

Unerfindlich aber, warum die mit allen Psychologien gewaschene 68er-Söhne-Generation bis heute nicht auf die Idee gekommen ist, ob sie nicht vielleicht unbewußt die Rolle des Saulus okkupiert hat, um stellvertretend für ihre Väter den Paulus geben zu dürfen. Denn ein paar Flecken braucht auch das beste Gewissen, sonst nimmt es einem nicht mal der liebe Gott ab. Gewagte Hypothese, sicher, aber analytisch hat sie einiges für sich. Denn da steigt einer ohne Not seinem Vater nach und bewältigt stellvertretend für ihn ein Leben, dessen Irrungen und Wirrungen er womöglich gern selbst gelebt hätte.

Wer auf die Dauerkapitulation der Väter geeicht ist, braucht den ewigen Nazi. Wer das schlechte Gewissen zur Handlungsmaxime macht, braucht das Dritte Reich. Wer seine Identität ex negativo begründen will, braucht Hitler. Vor allem braucht er Väter, die angeblich in die Demenz flüchten, um sich nicht erinnern zu müssen. So kann man noch ihr Verdämmern als Renitenz auslegen und das stupide Darauf-Herumreiten als Widerstand feiern.

Die Diskriminierung einer ganzen Generation trifft die Gesellschaft ins Mark. Sie löst sie, je länger und einvernehmlicher sie stattfindet, in ihrer kulturellen und politischen Substanz auf. Selten hat eine Generation das Haus ihrer Väter so gründlich geschleift. Und selten hat sie ihr eigenes so armselig eingerichtet.

 

Rainer Gebhardt, Jahrgang 1950, studierte Philosophie in Jena. Nach freier Mitarbeit in verschiedenen Verlagen war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Goethe-Nationalmuseum in Weimar. 1983 erfolgte die Aberkennung der Staatsbürgerschaft und Ausreise aus der DDR. Seitdem ist er als Texter für Werbeagenturen, Kommunikationsberater für Großunternehmen und als freier Autor tätig.

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