© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/08 20. Juni 2008

In der Sackgasse
Zweiter nationaler Bildungsbericht: Altes Desaster - neue Phrasen
Heino Bosselmann

Weil die Daten miserabel bleiben, werden die politischen Gesten barocker und die Initiativen eifriger. Auf Angela Merkels Wunsch soll die Bundesrepublik jetzt "Bildungsrepublik" werden, "Land der Ideen" ist sie ja bereits. Wohlstand für alle bedeute nun Bildung für alle, meint die Kanzlerin zu ihrer neuen "Chefsache". Nicht nur von "Alarm" und von "Bildungssackgassen" ist die Rede, sondern sogar von "nationaler Verantwortung", einem ansonsten gemiedenen Begriff.

Daß neun Prozent der deutschen Schüler ohne Abschlüsse abbrechen, 12 Prozent der Deutschen und 41 Prozent der Nicht-Deutschen ohne Berufsabschluß bleiben und dem Handwerksverband jeder Vierte nicht ausbildungsfähig erscheint, weil er nur limitiert lesen, schreiben und rechnen kann, hat sich in den letzten Jahren trotz aller Rufe nach Neuausrichtung des Bildungssystems nicht geändert, obwohl immer mehr Papier beschrieben und ein so teures wie hochdotiertes "Institut für Qualitätsentwicklung" gegründet wurde.

Von immer neuen Daten und Vermessungen auszugehen, ist Teil des Problems, wenn der Bildungsbegriff selbst unklar bleibt. Es wird quantitativ zu verstehen versucht, was nur qualitativ zu begreifen ist. Offenbar soll Bildung gerade nicht traditionell, sondern verkürzt, pragmatisch und modern verstanden werden als eine Art "Coaching", das auf den "Job" statt den Beruf und auf das "Abi" statt auf eine Reifeprüfung vorbereitet. Indem Bildung weiter vermarktwirtschaftlicht wird, setzt sie falsche Prioritäten. Vor allem verspricht sie mehr, als sie hält, wenn Inhalte zugunsten präsentabler Abschlüsse reduziert werden.

Mit ihrem neuen Slogan "Aufstieg durch Bildung!" nährt die Kanzlerin die Illusion, Bildung verstünde zu heilen, was globalisiertes Kapital eingerissen hat. Es wird der therapeutische Anschein erweckt, jeder könne Teil einer eingeengten, rein betriebswirtschaftlich kalkulierenden Gesellschaft sein, die längst nicht mehr jeden braucht und der der Begriff Würde nur noch als juristische Vokabel paßt. Die Schule soll versprechen, jeden einzelnen optimal zu fördern, während die Gesellschaft einen solchen Konsens verweigert. Wenn die Post symptomatischerweise etwa ihre Filialen per "Outsourcing" schließt, bedarf es des qualifizierten Postangestellten nicht mehr, obwohl der eine nationale Alltagskultur über Jahrzehnte entscheidend mitbestimmte.

Die politische Analyse geht von falschen Voraussetzungen aus, indem sie ignoriert, daß die Republik eben längst nicht mehr jene der Ära Adenauer/Erhard ist. Das Erfolgsmodell sozialer Marktwirtschaft wurde unter Verzicht auf nationale Eigenständigkeit der Globalisierung geopfert und hinterließ existentielle Verunsicherung: 38 Prozent der Bundesbürger haben "keine gute Meinung" von der deutschen Wirtschaftsordnung.

Floriert die Wirtschaft, bedeutet das gerade nicht mehr, daß es den Menschen gutgeht. Die Politik konstruiert skurrile Kausalitäten: Wenn Hochschulabsolventen immer noch einen "Job" bekommen, dann müssen eben mehr Schüler durchs Abitur. Sind die Gymnasien also voll, so gilt das wiederum als Indiz für gewachsenes Talent, obwohl der Zugang der Elternentscheidung überlassen bleibt. Andererseits fehlt es an Technikern und Ingenieuren, weil die deklarierten Talente Mathematik und Naturwissenschaften nicht ausreichend beherrschen.

Was politisch gewünscht wird, ist nicht unbedingt anthropologisch möglich. Weil die Hälfte der Schüler als abiturabel gilt, inflationiert das Abitur, und den übrigen Schularten verbleibt ein Schülerrest in der Sackgasse. Dem völlig sklerotischen Bildungssystem hilft nur noch: Entweder konsequent integrieren oder konsequent selektieren, auf partikularistischen Eitelkeiten der "Kultushoheit der Länder" verzichten und Inhalte gegenüber Wunschvorstellungen präferieren. Bildung ist Nationalgut!

Hinter all den "Initiativen" und "Offensiven" steht die Illusion, allein Bildung befreie die Opfer der wirtschaftlich bedingten Exklusion aus ihrem Abseits fehlender Teilhabe an Wertschöpfung, Politik und Kultur. Ein propagandistisch anmutendes Sendungsbewußtsein! Bildung soll die neuen Desozialisierten und "Überflüssigen" wieder in eine Gesellschaft integrieren, die ihrer längst nur noch als Konsumenten auf unterem Niveau bedarf.

Politische Träume bedürfen neuer Mythen. Zu den wichtigsten gehört die mystifizierte "Ganztagsschule". Die Schule soll die Super-Nanny sein, die gouvernantenhaft vor der bösen Welt und medialem Stumpfsinn bewahrt, indem sie einen Innenraum schafft, der schützt, bildet und bei der Entfaltung hilft. Eine funktionierende Gesellschaft konnte ihre Schützlinge noch draußen nach Bewährung suchen und Herausforderungen finden lassen! Heute will die jungen Menschen dort niemand brauchen. Bildung ist nicht die Bedingung einer funktionierenden Gesellschaft, sondern eher deren Folge! Die aufstrebende deutsche Nation schuf sich ein effizientes und vergleichsweise gerechtes Bildungswesen, weil sie Bedarf an Arbeitern und Wissenschaftlern hatte. Als talentiert galt man nicht a priori, sondern mit seiner Leistung, und die Schule experimentierte das, was eine prosperierende Gesellschaft realiter fortsetzte.

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