© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/08 20. Juni 2008

Kopf- und konzeptlos in Afghanistan
Bundeswehr: Die Große Koalition bereitet die erneute Erhöhung der Truppenstärke am Hindukusch vor / Akute Materialknappheit
Paul Rosen

Der Zweite Weltkrieg dauerte sechs Jahre, der Afghanistan-Einsatz alliierter und deutscher Truppen dauert jetzt fast sieben Jahre. Rund 50.000 Nato-Soldaten sind inzwischen in Zentralasien im Einsatz. Unter Kontrolle haben sie das dünn besiedelte Land nicht. Der spektakuläre Überfall auf das Gefängnis in Kandahar im Süden Afghanistans am vergangenen Wochenende zeigt, daß die alten islamischen Herrscher der Taliban zusammen mit den Terroristen von Osama bin Laden selbst in gesicherten Großstädten agieren können. Bei dem gut geplanten Überfall konnten 900 Häftlinge fliehen, darunter angeblich 400 Taliban, die den "Gottes­kriegern" sofort als Verstärkung zugeführt wurden.

Obwohl die Taliban nicht nur im Süden, sondern auch im von der Bundeswehr kontrollierten Norden größere Operationen durchführten, kommt der Wehrbeauftragte des Bundestages, Reinhold Robbe, zu einem eigenartigen Schluß: "Die Sicherheitslage ist heute wesentlich besser als vor einem Jahr, als dort auch Todesopfer zu beklagen waren." Die bisherigen Verstärkungsmaßnahmen hätten, so Robbe im Deutschlandradio, dazu geführt, "daß sich die Situation entkrampft hat, sie hat sich verbessert".

Im Klartext bedeuten diese Aussagen des Wehrbeauftragten: Je mehr Soldaten in das Land geschickt werden, desto sicherer die Lage. Das Bundeswehr-Kontingent war zuletzt mit Aufklärungsflugzeugen vom Typ Tornado ausgerüstet worden, die im gesamten afghanischen Luftraum patrouillieren dürfen. Die Zahl der Soldaten war deshalb von 3.000 auf 3.500 erhöht worden. Jetzt ist eine weitere Erhöhung des deutschen Kontingents auf 4.400 oder sogar 4.800 im Gespräch.

Robbes Aussagen sollen den Weg zur größeren Präsenz bereiten. Dabei machen allein schon die Größenangaben klar, daß Afghanistan nicht zu kontrollieren ist. Das Land ist mit 652.000 Quadratkilometern fast doppelt so groß wie die Bundesrepublik (357.000). Rein rechnerisch ist also jeder der 50.000 Nato-Soldaten für 13 Quadratkilometer zuständig. Es gibt aber im Unterschied zu Deutschland so gut wie keine Infrastruktur. Das heißt, die Soldaten bewegen sich überwiegend im Schrittempo - und sind damit nicht schneller als ihr Gegner, dessen Stärke nicht bekannt ist, dessen Quartiere man nicht kennt -, der aber selbst in der Hauptstadt Kabul zuschlagen kann, so zuletzt bei einer Parade für den Präsidenten Karsai. Interessant war daran, daß die afghanischen Soldaten nicht etwa ihren Präsidenten schützten, sondern sofort flüchteten. Die Sowjets hatten damals nach eigenen Angaben 100.000 Soldaten in Afghanistan im Einsatz und hatten nichts unter Kontrolle.

Mit der Erhöhung der Zahl der Soldaten und der Errichtung vielleicht eines weiteren Feldlagers im Norden oder Nordwesten versucht die Bundesregierung den Vereinigten Staaten entgegenzukommen, die deutsche Soldaten für die heiße Kampfzone im Süden angefordert haben. Dort sind bisher nur drei Dutzend deutsche Fernmelder, die ihre Aufgaben weitab vom Kampfgeschehen erledigen. Bei diesem eher symbolischen Beitrag soll es nach dem Willen von Kanzlerin Angela Merkel und Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) auch bleiben.

Denn die Spitzen der Koalition wissen genau: Der Afghanistan-Einsatz ist bei den Deutschen unbeliebt, auch wenn die Berliner Propaganda in der Vergangenheit versucht hat, möglichst schöne Bilder zu liefern. "Wir haben den Einsatz der Bundeswehr über Jahre eher weichgezeichnet", klagt denn auch der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Rainer Arnold. Ein Konzept für Afghanistan ist nicht vorhanden. Politisch weiß niemand, wie es weitergehen soll. Trotzdem schiebt der Westen wieder 13 Milliarden Euro an Karsai, obwohl bekannt ist, daß das Geld versickern dürfte.

Die Bundeswehr hat seit dem Tornado-Einsatz in Afghanistan ein Problem. Die vom Bundestag beschlossene Mandatsobergrenze wird fast ständig ausgeschöpft. Bei Kontingentwechseln müssen zunächst die alten Soldaten ausgeflogen werden, ehe neue in das Einsatzgebiet dürfen. Das erschwert die halbjährlichen Wechsel. Daher muß aus Sicht der Militärs die Obergrenze erhöht werden, die zuvor aus politischen Gründen bei 3.500 gezogen worden war. Zudem haben die Deutschen von den Norwegern die Aufgaben der schnellen Eingreiftruppe im Norden übernommen, was weitere 200 Soldaten bindet.

Eine Erhöhung der Soldatenzahlen und eventuell ein neuer kleiner Stützpunkt werden den Abgeordneten des Bundestages bald die Grenzen des Einsatzes vor Augen führen. Die Versorgung muß aus der Luft erfolgen. Die Transportflugzeuge und die Hubschrauber der Bundeswehr sind alt und störanfällig. Es gibt bereits heute eine akute Materialknappheit. Zusammen mit personellen Engpässen bei Spezialisten wie Ärzten und Elektronikern ist der deutsche Afghanistan-Einsatz eigentlich nicht mehr ausweitbar.

Das ist den Koalitionsabgeordneten im Verteidigungsausschuß durchaus bewußt. Noch gibt es zwar in der Großen Koalition eine Mehrheit für den Afghanistan-Einsatz und eine Erhöhung der Soldaten-Zahlen. Aber die Lage im Regierungslager ist gespannt. Die CSU möchte das Thema vor der bayerischen Landtagswahl am liebsten vermeiden. Die SPD will eigentlich auch nichts mehr von Afghanistan wissen, weil ihr die Linkspartei mit ihrem klaren Nein im Nacken sitzt. Aber die SPD braucht einen passenden Anlaß, um ihre Afghanistan-Position um 180 Grad drehen zu können. Der ist bisher nicht gefunden. Die CDU ist klar für den Einsatz, Grüne und FDP sind unentschlossen und schwanken. Alles in allem also eine Situation, um sich kopf- und konzeptlos noch tiefer in den Afghanistan-Krieg hineinziehen zu lassen.

Foto: Deutsche Patrouille im Norden Afghanistans: Weiteres Feldlager in der Planung

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