© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/08 20. Juni 2008

Festtage für einen Geächteten
Die große Hoffnung der deutschen Musik: Zum hundertsten Geburtstag des Komponisten Hugo Distler
Hans-Joachim von Leesen

Mit einer fünfspaltigen Besprechung reagierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung im März dieses Jahres auf die Aufführung des "Passionsberichts des Matthäus" von Ernst Pepping vom Berliner Rundfunkchor. Da ist die Rede von "atemloser Stille" und einer minutenlangen Spannung im Saal nach den Schlußtönen der Passion; "wem das Herz vor Rührung schier überläuft, dem verschlägt es vorerst noch die Sprache". Anschließend soll es zu einem "vulkanhaften Publikumsgespräch" gekommen sein.

Warum diese so ungewöhnlich umfangreiche Rezension? Warum die "enormen Vibrationswellen der Erschütterung" des Publikums? Warum die so überaus heftige anschließende Diskussion? Peppings Matthäuspassion war für Jahrzehnte aus dem Musikleben verbannt, wie die Zeitung schrieb, weil er "ein Nazikomponist" war.

Und so wie ihm ergeht es fast allen Komponisten, die in jener Zeit in Deutschland gelebt und gearbeitet haben. Die FAZ zählt einige auf: Hugo Distler, Werner Egk, Hans Pfitzner, Carl Orff, Cesar Bresgen, und man kann die Liste ergänzen mit Armin Knab, Paul Kichstatt, Gerhard Schwarz, Fritz Jöde, Willy Träder, Johann Nepomuk David, Botis Blacher. Sie lebten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland und wurden von den Ereignissen geprägt und erschüttert, sie erfuhren hier ihre musikalische Ausbildung und machten ihre künstlerische Karriere. Niemals hatten sie Einfluß auf die Politik, auch nicht auf die Kulturpolitik.

Nach 1945 gehörten sie zunächst weiterhin zum deutschen Musikleben. Unbefangen wurden ihre Werke aufgeführt, spielten Orchester ihre Sinfonien, sangen Chöre, was sie komponiert hatten, würdigten Kritiker ihre Werke sachlich und angemessen. Daß mancher von ihnen in Berührung mit dem Nationalsozialismus gekommen war, minderte den Wert ihrer Schöpfungen nicht.

Erst in den 1970er Jahren begann die zweite Entnazifizierungswelle. Nun genügte es, in jener Zeit in Deutschland gelebt und gearbeitet zu haben und anerkannt gewesen zu sein, um geächtet und totgeschwiegen zu werden.

Einer der Komponisten, die der Hexenjagd zum Opfer fielen, war Hugo Distler (JF 26/01). Am 24. Juni 1908 wurde er als außereheliches Kind von August Louis Roth, einem Stuttgarter Fabrikanten, und der Schneiderin Helene Distler in Nürnberg geboren. Unehelich geboren zu sein, das war in jener Zeit ein Stigma, unter dem Distler ein Leben lang gelitten hat, ein zartes Kind, extrem sensibel, stets von Angst und Einsamkeitsgefühlen verfolgt.

Seine Musikalität wurde früh erkannt. Er bekam Klavierunterricht und wurde 1927 ins Landeskonservatorium Leipzig aufgenommen. Als er 22 Jahre alt war, legte er sein erstes großes Werk vor, eine "Konzertante Sonate für zwei Klaviere", die bald darauf im Leipziger Rundfunk gesendet wurde. Es erfuhr sogleich großes Lob. Am 1. Januar 1931 wurde er als Organist von der Lübecker St.-Jacobi-Kirche angestellt, zur Aufbesserung seines Einkommens komponierte er nebenher weiter. Es erschien "Der Jahrkreis", eine Sammlung kleiner geistlicher Choralwerke, in Anlehnung an Heinrich Schütz eine "Deutsche Choralmesse", 1932 eine "Choralpassion" und eine "Kleine Adventsmusik". Distler schaffte es, eine Synthese zwischen alter Musik  - etwa der des Barock - und neuen musikalischen Ideen seiner Zeit herzustellen, eine neue Form zu finden, die die Musikwelt aufhorchen ließ. Sein Ansehen stieg, die materiellen Sorgen aber blieben.

1933 wurde er Leiter der Kirchenmusikabteilung der Lübecker Hochschule für Musik und im Wintersemester 1933/34 nebenberuflich Lehrer an der Kirchenmusikschule in Berlin-Spandau, wo er Komposition, Kontrapunkt und Harmonielehre unterrichtete. Wenig später wurde er dort hauptamtlich angestellt. Stets aber war er, von schwacher körperlicher Konstitution, überfordert. Er überanstrengte sich; es gab Nervenzusammenbrüche, und immer wieder wurde er von Selbstzweifeln geplagt, obwohl sich seine Werke immer weiter verbreiteten. Der Reichsrundfunk übertrug sie, in den Städten fand man die Titel seiner Werke auf den Konzertprogrammzetteln. Nach der Aufführung seiner "Geistlichen Abendmusik" auf den 3. Kasseler Musiktagen 1935 überschlugen sich die Rezensenten. In der Zeitschrift Lied und Volk las man: "Hugo Distler ist die große Hoffnung der deutschen Kirchenmusik, ja, der deutschen Musik schlechthin." Die Berliner Börsenzeitung meinte: "Dieser junge Lübecker Meister erweist sich immer stärker als eine der großen Hoffnungen der deutschen Musik (...) Er nähert sich in seinem Choralvorspiel 'Ach, wie flüchtig' in der herben und dichten Führung der Stimmen dem visionären Ausdrucksstil der Gesichte Barlachs."

1937 wurde er als Lehrer für Musiktheorie, Formenlehre und Chorleitung an die Württembergische Hochschule für Musik in Stuttgart berufen. Er konnte sich die Verlage für die Veröffentlichung seiner Werke aussuchen. Er blieb beim Bärenreiter-Verlag, der ihm ein festes monatliches Honorar zahlte. Immer mehr Angebote trafen bei ihm ein, so Filmmusiken und Musik zu Schauspielen zu schreiben. Er mußte sie wegen Überlastung ausschlagen.

Einen Triumph erlebte er auf dem "Fest der deutschen Chormusik" im Juni 1939 in Graz. Distler hatte eine größere Anzahl von Gedichten Eduard Mörikes vertont. Aus diesem "Mörike-Liederbuch" sang der Stuttgarter Hochschulchor 15 Sätze als Uraufführung. Das Echo bei Kritik und Publikum war überwältigend. Der Komponist wurde stürmisch gefeiert.

Dann brach der Krieg aus, der Distler emotional tief erschütterte. Zwar wurde er nach der Musterung vom Dienst freigestellt, eine Freistellung, die immer wieder verlängert wurde, doch litt er unter der Vorstellung von Toten und Zerstörungen. Davon befreite ihn auch nicht sein steiler beruflicher Aufstieg. Er schrieb Chorsätze, Oratorien, Kantaten, Orgelwerke. Das Reichserziehungsministerium berief ihn zum 1. April 1942 ins Amt des Direktors des Berliner Staats- und Domchores, eines der repräsentativen Chöre Europas, seine Ernennung zum Professor stand bevor, doch das alles konnte ihn nicht vor zunehmender körperlicher und seelischer Entkräftung und Niedergeschlagenheit bewahren. Am 1. November 1942 nahm er sich, niedergedrückt von Weltangst und steter innerer Unruhe, in seiner Berliner Wohnung mit Gas das Leben. Einen Tag danach traf die Nachricht ein, daß er für die Dauer des Krieges vom Wehrdienst befreit sei. Er liegt auf dem Waldfriedhof in Berlin-Stahnsdorf begraben.

 In den ersten Nachkriegsjahrzehnten blieb sein Ruf unangetastet. Die Chöre sangen seine Chorsätze, in den Kirchen wurden seine Orgelwerke, Kantaten, Oratorien aufgeführt. In dem Buch von Herzfeld über "Musica nova" nahm er einen wichtigen Platz ein. 1951 wurde ihm postum der Buxtehude-Preis der Hansestadt Lübeck verliehen, 1952 der Kulturpreis der Stadt Nürnberg. Erst mit der zweiten Entnazifizierungswelle Anfang der siebziger Jahre wurde er in den Hintergrund gedrängt. In den Medien hört man nichts mehr von Hugo Distler. Zwar gibt es immer noch Chöre, die seine Werke singen, Organisten, die Distlers Werke erklingen lassen, doch es fehlt die öffentliche Anerkennung.

Am 24. Juni jährt sich zum hundertsten Male sein Geburtstag. Daß in Lübeck der Evangelisch Lutherische Kirchenkreis Lübeck, die St.-Jacobi-Kirchengemeinde, die Musikhochschule Lübeck und die Bibliothek der Hansestadt Lübeck vom 20. bis 24. Juni Festtage veranstalten, läßt hoffen. Neben Chor- und Orgelkonzerten, Vorträgen, Gottesdiensten mit Distlers Kantaten findet an seinem Todestag ein Festkonzert statt, in dessen Mittelpunkt die Uraufführung von vier Chören aus Distlers Oratorium "Die Weltalter" steht.

Abbildung: Hugo Distler (1908-1942): Von Angst und Einsamkeit verfolgt

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