© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/08 20. Juni 2008

Zwischen nachvollziehbarer Erwägung und Spinnerei
Joscelyn Godwins Werk über den polaren Mythos offenbart ein weithin geheimnisvolles Weltanschauungssystem
Karlheinz Weissmann

Seitdem die Weltkarte keine weißen Flecken mehr hat, müssen sich Paradiessehnsüchte auf eine goldene Vergangenheit oder eine goldene Zukunft richten. Allerdings ist nicht jeder bereit, solchen Zwang zu akzeptieren. Es gab und gibt immer die, die ein "verlorenes Land" suchen, und die Anhänger des "polaren Mythos" gehören dazu.

Das Buch "Arktos" von Joscelyn Godwin behandelt die Weltanschauung jener Gruppen und Einzelgänger, die bei aller Verschiedenheit der Positionen in der Auffassung übereinstimmen, daß die Urheimat der menschlichen Zivilisation am Pol zu suchen sei. Eine gewisse Plausibilität erhält diese Vorstellung durch die seit dem 19. Jahrhundert geführte Diskussion über die Neigung der Erdachse, die möglicherweise die Ursache für die Vereisung von Arktis und Antarktis war.

Man kann für solche Vorstellungen aber auch sehr alte Überlieferungen heranziehen, die im Fall der Griechen wie der Arier von einer "nordischen" Herkunft sprechen, oder auf Spekulationen über Völkerwanderungen in vorgeschichtlicher Zeit, die seit dem Barock in Frage stellen, daß alles Licht der Menschheit aus Osten gekommen ist. Eine wichtige Rolle spielen außerdem bestimmte Konzepte nationaler oder rassischer Identität. Wie Godwin deutlich macht, liegen aber vor allem Verbindungen zu esoterischen Ideen nahe: der Glaube an einen Kontinent oder eine Insel Atlantis, die durch eine Flut vernichtet wurde und ihre Einwohner zur Flucht zwang, wobei sie überlegene kulturelle Kenntnisse mitnahmen und an die primitivere Restmenschheit weitergaben, die Vorstellung von einer kosmischen Katastrophe, wie sie Hanns Hörbigers "Welteislehre" ("Hörbigers Glacial-Kosmogonie" von 1912) zur Grundlage weitreichender Mutmaßungen machte, das theosophische Konzept verborgener Zentren okkulter Macht oder die diversen Hohlwelttheorien.

Im einzelnen ist nur schwer zu unterscheiden, wo bei alldem die nachvollziehbare Erwägung aufhört und die Spinnerei beginnt. Erstaunlich bleibt aber die Ausdehnung der "polaren" Szene mit ihren Meisterdenkern und Häretikern, Schulen und sektenartigen Zusammenschlüssen, die Neigung zu quasi-naturwissenschaftlichen Verfahren auf der einen und zu geheimnisvollen Offenbarungen auf der anderen Seite. Im Grunde handelt es sich um ein Weltanschauungssystem von erheblichem Umfang, das die breitere Öffentlichkeit aber kaum je zur Kenntnis nimmt.

Wenn doch, dann weil es eine politische Tendenz nach rechts aufweist. Das ist naheliegend wegen der Konzeption des polaren Mythos als Mythos, der naturgemäß eine Affinität zu rechten Ideologemen aufweist. Und in Godwins Buch begegnen dem Leser nicht nur die Köpfe des Traditionalismus wie René Guénon und Julius Evola, sondern auch die Geister minderen Ranges, von den Verfechtern der "phantastischen Wissenschaft" bis zu den Anhängern eines "esoterischen Hitlerismus". Im zuletzt genannten Fall ist wohl der äußerste Grad an Abstrusität erreicht, aber auch eine solche Vermischung von politischem Kalkül, romanhafter Phantasie und Faktenresten, daß sich die einzelnen Elemente kaum noch scheiden lassen, sondern der Eindruck eines geschlossenen Ganzen entsteht.

Diese Geschlossenheit führt wiederum dazu, daß das Ganze bei Gelegenheit demontiert und in andere Zusammenhänge übertragen werden kann, ohne Rücksicht auf den Sitz im politischen Leben.

Wie jede lebendige Weltanschauung ist auch die der Anhänger des "polaren Mythos" ständig im Wachsen begriffen. Ein kurzer Blick auf die Ergebnisse einer Netzsuche genügt, um sich das klarzumachen. Insofern ist hinnehmbar, daß das Buch von Godwin nicht ganz den aktuellen Stand der Entwicklung bietet. Aber mit der Veröffentlichung dieses Standardwerks - ergänzt um das gewohnt kenntnisreiche Nachwort Hans Thomas Hakls zu dem indischen Theoretiker Bal Gangadhar Tilak - in einer endlich lesbaren Fassung (die bisher auf dem Markt befindliche war inakzeptabel) hat der Stocker-Verlag wieder seine Bedeutung für Publikationen zur religiösen Zeitgeschichte unter Beweis gestellt. Neben dem Buch von Nicholas Goodrick-Clarke über die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus und der Arbeit von Marco Pasi zum Politischen bei Aleister Crowley ist die Untersuchung von Godwin eine wichtige Analyse zu den häufig vernachlässigten Aspekten der geistigen Entwicklung.

Joscelyn Godwin: Arktos. Der polare Mythos zwischen NS-Okkultismus und moderner Esoterik. Mit Einführung und einem Nachwort von Hans-Thomas Hakl. Ares Verlag, Graz 2007, gebunden, 335 Seiten, Abbildungen, 29,90 Euro

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