© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/08 04. Juli 2008

Ich bin, also bin ich schuld
Die schlimme Pein, nicht zu verstehen: Zum 125. Geburtstag des Schriftstellers Franz Kafka
Harald Harzheim

Nur wenigen Autoren widerfuhr die Ehre, daß aus ihren Namen ein Adjektiv abgeleitet wurde. Der Marquis de Sade (sadistisch), Leopold von Sacher Masoch (masochistisch), Dante Alighieri (dantesk) zählen dazu - und natürlich Franz Kafka, auf den das "Kafkaeske" verweist. Letzteres steht für eine bedrohliche Ungewißheit, ein Ausgeliefertsein an eine unbekannte, bestenfalls geahnte Gefahr. Diese erweist sich als undurchdringliches Rätsel, das zu lösen immer nur weitere Abgründe aufreißt. Traumatisierend neben der gefühlten Gefahr ist vor allem "die schlimme Pein, nicht zu verstehen" (Paul Valéry).

Als "kafkaesk" gilt auch eine undurchschaubare, menschenferne Bürokratiemaschine oder die Jurisdiktion. So weinte sich vor längerer Zeit in der FAZ ein Jurist darüber aus, daß die Deutschen keine "Rechtskultur" besäßen und beim Stichwort "Recht" immer nur an Kafka dächten.

Es sind vor allem die Romane "Der Process" (1914) und "Das Schloß" (1922) oder Kurzgeschichten wie "Vor dem Gesetz" (1914), die den Autor zum Namenspatron des "Kafkaesken" werden ließen. Aber nicht nur diese Werke, auch Kafkas Biographie scheint nach diesem Adjektiv zu verlangen.

Der am 3. Juli 1883 in Prag in eine jüdische Kaufmannsfamilie hineingeborene Franz Kafka war eine hagere, eher unauffällige Erscheinung. Tagsüber arbeitete er als Versicherungsbeamter, eine Tätigkeit, deren Monotonie ihn quälte. In nächtlicher Stille dagegen, in seinem Zimmer eingesperrt, brachte er bis dahin ungekannte Alpträume zu Papier: Texte der Angst, düstere Klassiker der literarische Moderne.

Weniges davon kam zu seinen Lebzeiten an die Öffentlichkeit, das meiste wurde post mortem von seinem Freund Max Brod ediert - entgegen dem Wunsch des Verstorbenen. Denn Kafka zweifelte an der literarischen Qualität seiner Texte.

Solch quälender Selbstzweifel bezog sich nicht nur auf die Qualität seiner Texte, sondern - im radikalsten Sinne - auch auf die eigene Person. So beginnt die Kurzgeschichte "Der Fahrgast" (1913): "Ich stehe auf der Plattform des elektrischen Wagens und bin vollständig unsicher in Rücksicht meiner Stellung auf dieser Welt, in dieser Stadt, in meiner Familie. Auch nicht beiläufig könnte ich angeben, welche Ansprüche ich in irgendeiner Richtung mit Recht vorbringen könnte. Ich kann es gar nicht verteidigen, daß ich auf dieser Plattform stehe, mich an dieser Schlinge halte, von diesem Wagen mich tragen lasse, daß Leute dem Wagen ausweichen oder still gehn oder vor den Schaufenstern ruhen." Schuldgefühle ohne erkennbare Ursache, aufgrund der puren Existenz, das ist Kafkas Grundbefindlichkeit.

Hoffnungslos war die emotionale Abhängigkeit vom allgewaltigen Vater Hermann Kafka und dessen zerschmetternden Vorwürfen. Aussichtslos war Kafkas Suche nach Geborgenheit im Judentum, dafür war er um so empfänglicher für antisemitische Attacken, die er - fast selbstquälerisch - in den Schriften Hans Blühers fand und las. Verzweifelt waren die Bemühungen um eine Partnerschaft. Die Beziehung zu Felice Bauer versandete nach zweifacher Ver- und Entlobung, bei Julie Wohryzek reichte ein gelöstes Eheversprechen.

Für zusätzliche Gewissensqualen dürfte seine Teilhaberschaft an einer frühen Asbestfabrik gesorgt haben. Die karzinomfördernde Wirkung von Asbest war zu dem Zeitpunkt zwar nicht bekannt, wohl aber die scheußlichen Arbeitsverhältnisse bei dessen Produktion. Kafka selbst schrieb einen erschütternden Text über diese Staubhölle.

Erst als eine tödliche Kehlkopftuberkulose ihn befiel, konnte er als Frühpensionär Stellung, Familie und Prag verlassen. Er zog nach Berlin und lebte in Steglitz mit der Rabbinertochter Dora Diamant. Zum erstenmal, als Todkranker, hatte er sich befreit, wurde er fähig zu einer tiefen Liebesbeziehung. Am 3. Juni 1924 starb Franz Kafka in einem Sanatorium bei Klosterneuburg im Alter von 40 Jahren.

Ein solches Leben schreit nach Kompensation, die Kafkaeske muß - während nächtlicher Schreibexzesse - zu Literatur transformiert werden. So wurde ihm die dunkle Schreibstube zum Alchemistenlabor, dessen dunkle Schöpfungen zugleich Dokumente kurzzeitiger Selbsterlösung sind: wie das Romanfragment "Der Process".

Darin wird der Angestellte Josef K. eines Morgens verhaftet. Die Anklage wird ihm nicht genannt, auch ist er sich keiner Schuld bewußt. Zudem ist seine "Verhaftung" nur eine symbolische, er kann seinem Alltag nachgehen, weiß aber, daß permanent ein geheimnisvoller "Prozeß" gegen ihn läuft. Josef K. versucht diese Maschinerie zu begreifen, was ihm aber bei einer gerichtlichen Vorladung, gegenüber seinem Anwalt sowie bei der Konfrontation höherer Instanzen vollständig mißlingt. Statt dessen muß er zu seinem Schrecken erkennen: Sein gesamtes Umfeld ist in diese unheimliche Maschinerie verwickelt.

Eine weitere Frage drängt sich auf: Ist in Anbetracht dieser übermächtigen Maschinerie ohnehin jede Intervention zwecklos, oder hält Josef K. gerade dadurch, daß er sich so verzweifelt wehrt, den Prozeß erst in Gang? Darauf deuten die Worte eines Geistlichen im Dom: Das Gericht "will nichts von Dir. Es nimmt Dich auf, wenn du kommst und es entläßt Dich, wenn Du gehst."

Genau hier liegt die Wurzel des "Kafkaesken". Eine Bedrohung, die sich weder als Wahn noch als real erweisen läßt, ist total. Deshalb meidet Kafka auch jede psychologisierende Terminologie. Denn Bezeichnungen wie "Verfolgungswahn" würden das Problem einseitig ins Subjekt verlegen, die Außenwelt wieder klären und den Leser beruhigen. Statt dessen gehen Innen- und Außenwelt auf geheimnisvolle Weise synchron. Josef K. wird zuletzt exekutiert, ohne zu wissen, wie und warum es dazu kam. Alles dreht sich um ein "grund-loses" Schuldig- und Verlorensein.

Ähnlich zeigt sich die Fragestellung in der Kurzgeschichte "Vor dem Gesetz", die im "Process" enthalten ist. Das Gesetz wird von einem mächtigen Türhüter bewacht. Eines Tages kommt ein Mann vom Lande und verlangt Einlaß, den der Türhüter ihm verweigert. Jedoch: "Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon des Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen." Der Mann vom Lande schreckt zurück. Er wird sein Leben lang mit ängstlichem Warten verbringen.

In der Kabbala gibt es die Warnung, daß ein Mensch, der in höhere Sphären eintritt, von dämonischen Türwächtern erschreckt werde. Trotzdem soll er seinen Weg mutig weitergehen, denn die Dämonen sind nur Illusion, Projektion seines Inneren. Anders bei Kafka. Weder der Mann vom Lande noch der Leser weiß, ob der Wächter wirklich diese Kraft hat oder nur blufft bzw. Projektion des ängstlichen Besuchers ist. Der Mann stirbt, ohne das Rätsel je gelöst zu haben.

Leider wird es uns, Kafkas Lesern, kaum anders ergehen.

Foto: Mann eingezäunt, eigenhändige Illustration (um 1905) von Franz Kafka zum Roman "Der Process": Als Todkranker war er endlich frei

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