© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/08 04. Juli 2008

Auf Morgenlandfahrt
Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident: Günter Zehm zeigt, was Globalisierung außerdem bedeutet
Harald Seubert

Daß wir in globalisierten Zeiten leben, ist evident. Daß Globalisierung nahezu ausschließlich ökonomisch definiert wird, nicht minder; dabei zeigt sich, daß die durch Waren- und Informationsströme fein verzahnte Welt in sich von tiefen Trennungen und Brüchen durchzogen ist. Um so unbefriedigender ist der derzeitige Zustand der Diskussion, um so drängender die Einsicht in die geistigen Hintergründe. Der geistigen Tiefenprägung der Kulturen nachzugehen, verlangt zuallererst, sich auf die Weltphilosophien und Weltreligionen einzulassen. Daß Günter Zehm dies mit bewährtem polyhistorischem Blick und in einer Offenheit für unterschiedliche Denkstile in ihrer Differenz und ihrem verborgenen Zusammenhang getan hat, sichert dem neuesten Band seiner "Jenaer Vorlesungen" Aufmerksamkeit.

Zehm skizziert mit leichter Feder Konfuzianismus und Taoismus. Dem Handeln durch Nichtvorhandensein, wie die Lektion Laotses lautet, verdankt sich jenes "Amalgam aus Herrschaft und Intellektualismus", das die chinesische Kultur begründet hat. Zehm wirft zu Recht die Frage auf, ob eine Überlegenheit des "okzidentalen Rationalismus" in der modernen, hochgradig technologisierten Welt gegenüber jenen Denkformen von Dauer sein wird. Fernöstliche Denkstile sind auch darin verbunden, daß der Name des Lehrers und Weisen nichts zur Sache tut. Zehm profiliert, daß der chinesischen Weltzugewandtheit in Indien eine Weltabwendung entspreche. Er geht nach eingehender Besprechung der Veden der Lehre der Upanishaden von Moksha, der Erlösung, und Karma nach, wobei letzteres allenfalls die Illusion schenkt, daß das endliche irdische Leben nicht vergebens sei. In einem geistreichen Flug werden die untereinander höchst unterschiedlichen Strömungen des Buddhismus reflektiert: von der Logik der Verneinung bei Nagarjuna, dem Hegel des Ostens,  bis zur radikalen Dementierung einer Erkenntnisfähigkeit der Sprache und den Paradoxa des Koan im Zen.

Ein ausgreifendes Kapitel gilt der Problematik von Gut und Böse und damit der gnostischen Entzweiung der Welt. Zehm wendet sich in diesem Horizont der Religion des Zoroaster zu, die er, was selten geschieht, in eine Zwiesprache mit der altnordischen Edda-Überlieferung bringt, mit ihrer Beschwörung der Götterdämmerung und eines Verstrickungszusammenhangs des Bösen, das im großen Goldschatz sein Symbol findet. Dazwischen fokussiert er die alttestamentarische, wie er schreibt, geradezu brutale Freisetzung des Ich auf den Zusammenhang des Bösen und der Freiheit in der Sündenfallerzählung und im Buch Hiob.  Zehm verschweigt nicht die Gegenposition der Ophiten, die Apologie der Schlange, die die Emanzipation des endlichen Lichtes der Vernunft von Gottes Allmacht ins Werk gesetzt habe. Es ist typisch für Zehms Denken, daß er das älteste Alte und das neueste Neue mit Esprit aufeinander beziehen kann, so wie es schon sein Lehrer Ernst Bloch vermochte. Mit Sympathie konstatiert er die Überlegungen des Heisenberg-Schülers Fritjof Capra über das Tao der modernen Physik, eine konstante Inklination ihrer Entwicklung auf den subatomaren Raum, die "ungeheure Zusammenballung von Leere", die die Cartesianische Subjekt-Objekt-Differenz aufsprengt und sich mit dem Leere-Gedanken bei Buddha oder Laotse berührt, ist doch die "Leere nicht das Nichts, sondern sie ist ein Kraftfeld, aus dem alles auftaucht und in das alles wieder eintaucht." Hier zeigt sich: Tiefschürfende Überlegungen zur "Globalisierung des Geistes" können nicht nur aus Engführungen der neuzeitlichen Wissenschaft lösen, sondern auch den Sinn dafür schärfen, daß Wissenschaft immer in Weisheit gründet.

Das Verhältnis von Platon und Asien, das dem Buch seinen Titel gibt, ist von grundsätzlichem Interesse. Zehm liegt dabei weniger (vielleicht zu wenig) an dem singulären europäischen Logos, der sich von der antiken Tragödie aus zur Platonischen Philosophie als wahrer Tragödie verdichtete und sich damit von Asien absetzte, als an den dünnen Membranen, die das eine mit dem anderen verbinden. Grundtendenzen wie jene auf Entsinnlichung, Entwillentlichung, aber auch auf das Eine sind der Rigveda, dem I-Ging und den Vorsokratikern durchaus gemeinsam. Die spezifische okzidentale Rationalität (mit dem Wort Max Webers) sieht Zehm in der Zahl grundgelegt. Er gewichtet dabei aber vielleicht doch zu gering, daß die Mathematik für Platon vornehme Propädeutik ist, aber keineswegs die Grundlagendisziplin der Philosophie. Der Mathematiker spricht nur "träumend von der Wahrheit".

Unter der Hand zeigt sich eine Zweiteilung des Buches: Der erste ist Zeugnis einer Faszination und umsichtigen, aber zugleich eleganten Annäherung an östliche Denkformen und damit beeindruckende Skizze einer umfassenden Weltphilosophie; der zweite ist Skizze einer Einflußgeschichte Asiens auf Europa. Der Islam und die Araber, von denen der authentische Aristoteles über Spanien in das Mittelalter kam, sind für Zehm gleichermaßen Transmissionsriemen wie Filter für die fernöstlichen Einflüsse. Von dem leitenden Problem des Bösen her streift er den Stachel der Gnosis und skizziert die epochale Differenz an Markion und Irenäus. In den letzten Jahren und Jahrzehnten sind durch die großen Studien von Leisegang, Jonas und die Philosophie von Hans Blumenberg die Zusammenhänge sowohl in ihrer Systematik wie auch in ihren subtilen Verästelungen erkennbar geworden. Leider nimmt Zehm darauf, ebenso wie auf die Prägekraft der Gnosis für moderne Ideologien, kaum Bezug.

Zehm ist an der Erzählung der Auseinandersetzung, nicht an der denkerischen Erfassung der christlichen Position interessiert. Daß er letztlich ein Geschichtenerzähler der Philosophie ist (von ungleich höherem Karat als italienische Bestsellerautoren) tritt an dieser Stelle hervor. Dies macht den Charme seiner Bücher, aber auch eine Grenze aus.

Auf einer beeindruckenden Literaturkenntnis beruhend wird dann der asiatische Einfluß auf die Renaissance, namentlich über die Akademie von Florenz und ihre neuplatonisch okkulten Wirkungen erörtert; auch die deutsche Faszinationsgeschichte  behandelt Zehm geist- und kenntnisreich: von Mozarts "Zauberflöte" über die gänzlich contre cœur ihres Urhebers verlaufende Spinoza-Begeisterung, die den Geist der Goethe-Zeit und des frühen Idealismus, ausgehend von Jacobis warnend polemisch gemeinten Spinoza-Briefen, prägte, bis hin zu Schopenhauer, der "großen Trompete asiatischer Weisheitslehren im europäischen Denken". Nietzsches  tastende Frage nach einem europäischen Buddhismus gibt den Brahmanen hinter imperialistischen Vordergrundansichten zu erkennen. Auch Whiteheads Prozeßphilosophie vom Der-Fall-Sein der Welt in jedem Einzelereignis ("actual entity") wird, parallel zum Tao der Physik, mitbedacht. Doch vor allem zeigt sich noch einmal, ähnlich wie in seinem Nietzsche-Buch, daß Zehm die Konstellation zwischen Heidegger und Nietzsche zu einem Schlüsselproblem seines eigenen Philosophierens wird. Es fokussiert sich hier auf die Frage, wer von beiden asiatischer sei. Die große Anziehungskraft, die Heideggers Denken, neben jenem Hegels übrigens, im asiatischen Raum findet und die letztlich dazu führt, daß er von Denkern wie dem Inder Raja Ramanna Nietzsche vorgezogen wird, weist auf eine Grunddifferenz von beider Denken hin, die freilich mit der europäischen Metaphysik wenig zu tun hat. Bei Nietzsche ist die Maske, hinter der ein letztes Geheimnis ungelüftet bleibt. Aber, so zitiert Zehm Ramanna, "gewahren wir hinter der Maske, gleichsam als Stoffverspannung, nicht ein höhnisches und gleichzeitig hilfloses Grinsen, so als ob der Wille zur Macht sich letztendlich doch nicht mehr so sicher sei, daß er die Mutter Erde reinhalten (...), vor ungehemmtem Verbrauch schützen könne?" Dies wiederum wird - umgekehrt - dem Denken der Lichtung zugebilligt.

Zehm schließt mit einem furiosen Kapitel über den Islam, das der entscheidenden Frage nachgeht, weshalb die Dualität von Vernunft und Offenbarung, die zumindest das europäische Christentum durchzieht, im Islam nur eine Minderheitenposition sein konnte. In diesem Zusammenhang artikuliert er durchaus die Affinität zwischen reinem, ausschließendem Monotheismus und Gewalt - wobei das Christentum sehr viel weniger Monotheismus als der Islam gewesen sei. Eben bei diesem "sehr viel weniger" müßte die Reflexion ansetzen. Zehm schließt seine kenntnisreiche Morgenlandfahrt indes mit einer Überlegung über das Paradies: das weder als Regressionsphantasie und Rückweg in ein "Goldenes Zeitalter" tauge noch als innerweltliche Überhöhung säkularer Religion, sondern das er mit Goethe als "gelungene Erkenntnis-Arbeit" versteht, gemäß Fausts "Wer immer strebend sich bemüht". Als säkulare Wendung darf man dies nicht mißverstehen, denn Erkenntnis, die Zehm mit Erlösung gleichsetzt, begreift er als "Einweihung" in Gottes Geheimnis, "jenseits aller Räumlichkeit und Zeitlichkeit und Schiedlichkeit und Unendlichkeit und Endlichkeit und Logos und Licht und Finsternis". Insofern ist er im besten, nicht-manichäischen Sinne doch ein Gnostiker.

Dieses Buch ist ein ideales Manuale für die geistigen Dimensionen globaler Kultur: offen, von vielfacher Neugierde und Erkundungslust bestimmt, in der Folge von Jaspers, vor allem aber von Paul Deussens, des Freundes Nietzsches, magistraler "Allgemeinen Geschichte der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Religionen", von subtilem Charme, großer Gelehrsamkeit und feuilletonistischer Leichtigkeit. Man möchte es jungen Menschen, Abiturienten vor allem, wenn sie in die neue, alte Welt zu gehen im Begriff sind, mit auf ihre Passage durch das Global village geben. Es ist eine gute Anleitung zum Selbstdenken - und es strahlt auf fast jeder Seite Goethes Confessio aus dem West-Östlichen Divan aus: "Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident. Nord und südliches Gelände ruhn im Frieden seiner Hände".

 

Prof. Dr. Harald Seubert, geboren 1967, lehrt Kulturphilosophie und Ideengeschichte des deutschen Sprachraums an der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen und Religionsphilosophie an der Friedrich Alexander Universität Erlangen-Nürnberg.

 

Günter Zehm: War Platon in Asien? Adnoten zur Globalisierung des Geistes. Edition Antaios, Schnellroda 2008, gebunden, 336 Seiten, 25 Euro

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