© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/08 04. Juli 2008

Hinter den Schleier geblickt
Der Islamwissenschaftler Tilman Nagel beleuchtet die Unterschiede zwischen der Biographie Mohammeds und dessen späterer Deutung
Karl-Heinz Kuhlmann

Der im Juli 2004 auf den Lehrstuhl für "Religion des Islam" der Westfälischen-Wilhelms-Universität in Münster und damit zur Ausbildung von muslimischen Religionslehrern an öffentlichen Schulen berufene Muhammad Kalisch vertrat im selben Jahr in einem Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung "Zukunft der Religionen in Europa" folgende Auffassung: Die ersten beiden Jahrhunderte der islamischen Geschichte sind entweder erfunden oder gefälscht; ob Mohammed überhaupt gelebt habe, ist nicht erwiesen; eine Religion, welche sich allen anderen als überlegen ansieht (also gerade auch der Islam), hat vor der Vernunft keinen Bestand, und Gott schreibt keine Bücher. Kalisch widerspricht also der bisher auch besonders in der deutschen Mohammed-Forschung vorherrschenden Grundannahme, daß der Koran und der Hadith sowie die Sira von Ibn Hisham (gestorben 830), die angeblich auf eine ältere Vorlage eines Abu Ishaq (gestorben 767) zurückgeht, historisch seien. Damit bräche dann diese gesamte bisherige Forschung zusammen, das heißt auch das Lebenswerk so manchen Forschers.

Nun ist eine solche radikale historisch-kritische Sichtweise in der Religionswissenschaft nicht neu, daß aber ausgerechnet ein von der Landesregierung berufener muslimischer Professor eine solche Haltung einnimmt, verwundert  sehr. Er soll doch als Muslim dazu beitragen, den Islam aus den Koranschulen der Hinterhöfe in das Licht der akademischen Öffentlichkeit und in die Schulen zu holen. Ob ihm da die vielen frommen Muslime in Deutschland folgen werden, ist allerdings unwahrscheinlich. Der Wahrheitsanspruch des Islam ist ja gerade in der Behauptung begründet, daß diese Religion wie keine andere von Anfang an dokumentiert sei und im Koran eine authentische und direkte Offenbarung besitze - unverfälscht und akribisch überliefert! Was nun also? Wie steht es um den Islam und seinen Propheten im akademischen Diskurs? Man möchte sagen: Des Büchermachens auf diesem Felde ist kein Ende! Aber welche Titel haben Gewicht?

Der emeritierte Göttinger Arabist und Islamwissenschaftler Tilman Nagel, ausgewiesen durch eine lebenslange Forschung und zahlreiche Veröffentlichungen, hat nun als Frucht seiner letzten intensiven Studien eine im wahrsten Sinne des Wortes "gewichtige", aber wohl auch wichtige Biographie Mohammeds vorgelegt. Wichtig allerdings nur unter der Voraussetzung, daß man seine Quellen als authentisch akzeptiert und nicht wie Muhammad Kalisch und andere Forscher als erfunden oder gefälscht ansieht. Ansonsten wäre sie - und das wird wohl noch lange offenbleiben müssen - "viel Lärm um nichts", entsprechend dem Motto: Wir wissen nicht, wohin wir laufen, aber wir tun es um so eifriger.

Den acht Kapiteln seines Werkes  fügt Nagel am Schluß als Anhang eine "Einführung in den Gegenstand" hinzu, in der er erstens über den "Stand der Forschung" und zweitens über "Eigene Forschungen" berichtet. Hier liegt dann auch der Schlüssel für das Gesamtverständnis dieser mit 1.052 Seiten wohl umfangreichsten Mohammed-Biographie in deutscher Sprache.

Nagel referiert, ausgehend vom 1941 erschienenem Handwörterbuch des Islam, in welchem schon damals viele Artikel als überholungsbedürftig erschienen, nicht jedoch der über Mohammed vom Dänen Frants Buhl, über dessen bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als Standardwerk geltende Mohammed-Biographie von 1903, die auch kaum verändert in der Neuausgabe der Enzyklopädie des Islam von 1993 den Grundstock des Beitrages über den Propheten bildet. Wie ist diese Beständigkeit zu erklären? Hat es inzwischen keine neuen Erkenntnisse gegeben? Durchaus, "aber der wissenschaftliche Konsens über die Frage, ob und falls ja, wie das Abfassen einer Biographie  Mohammads möglich sei, ist seit langem zerbrochen. (...) Entsprechend disparat in Methodik und Darstellung erweisen sich die neueren Werke. (...) Sie reichen von der schwärmerischen Nacherzählung der hagiographisch überformten Überlieferung (...) bis zur Leugnung der Geschichtlichkeit Mohammeds". Da es hierzu keinen mittleren Weg gebe, müsse ein kompletter Neuanfang der Forschung in Angriff genommen werden.

Dabei geht es nach Nagel um die bereits bei Buhl aufgeworfene Kernfrage nach dem Verhältnis, das zwischen dem Koran und dem Hadith, also der Überlieferungskette und dem Text der Aussprüche und Handlungen des Propheten besteht. Hier könne die Antwort nur aus dem Lebenswerk Mohammeds gewonnen werden, die dann auch jeden Zweifel an seiner Geschichtlichkeit behebe. Letztendlich gehe es darum, den gesamten Komplex "Mohammed und die Entstehung des Islam" in den Blick zu nehmen und dabei "aufmerksam und umsichtig zu registrieren, was die Quellen in ihren mannigfaltigen Gattungen uns eigentlich mitteilen".

Nagel erinnert zunächst an seine frühen Studien (Untersuchungen zur Entstehung des abbasidischen Kalifats, 1972, sowie Rechtleitung und Kalifat. Versuch über eine Grundfrage der islamischen Geschichte, 1975). Damals sei ihm die "Dürftigkeit unserer Kenntnisse von Mohammeds Wirken in Medina und von der Geschichte der ersten Jahrzehnte nach seinem Tod schmerzlich zu Bewußtsein gekommen". Wie das? So möchte man fragen. Es gab doch auch damals schon ganze Bibliotheken mit genau datierten Einzelheiten über die nachfolgenden Kalifen. Und doch hielt Nagel gerade diese Epoche für nahezu undurchdringlich. Er entschuldigt sich mit dem Hinweis, daß sein Forschungsschwerpunkt ein anderer gewesen sei und auch er selbst - wie bis heute üblich - immer nur durch die Brille muslimischer Deutung geblickt habe.

Als ihm 1980 der Verlag C. H. Beck angetragen habe, eine Monographie über den Koran zu schreiben, sagte er erst nach einigem Zögern zu, da die allgemeine Erkenntnis (besonders vertreten durch den 2002 verstorbenen US-amerikanischen Orientalisten John Edward Wansbrough) darin bestand, niemand wisse eigentlich noch recht, was der Koran denn überhaupt sei. Das Ergebnis dieser Arbeit (Der Koran, 1980) habe dann zu drei Ergebnissen geführt: Erstens, Wansbrough hat unrecht. Der Koran bezeugt eine stimmige Gotteserfahrung; zweitens, die koranische Gotteserfahrung unterscheidet sich deutlich von der christlichen und jüdischen; drittens, das gleiche läßt sich vom Prophetentum in den drei Religionen sagen.

Für seine weiteren Arbeiten sei dann die Einsicht wichtig geworden, "daß die Ergebnisse der vom Formalen ausgehenden Erfassung der Textgeschichte des Koran durch eine religionsphänomenologische Analyse des Inhalts im wesentlichen bestätigt werden". Es sei Wansbrough unter anderem nicht gelungen zu erklären, wie aus zunächst unzusammenhängenden kerygmatischen und erbaulichen Texten ein den drei genannten Ergebnissen genügendes Korpus entstehen könne.

Zu einer näheren Beschäftigung mit dem Leben des Propheten haben dann die in einigen Koranausgaben ausgewiesenen medinischen Einschübe in mekkanische Suren geführt, welche in einer bis ins 7. Jahrhundert zurückreichenden Überlieferung verbürgt seien, aber bis dato von der Forschung nicht beachtet wurden. Für die Vita Mohammeds folge daraus, daß dieser sich erst allmählich darüber klar wurde, daß das Ergebnis seines Angesprochenseins eine Schrift bzw. ein Koran (Lesung, Vortrag) zu sein habe. Weitere Ergebnisse des Studiums dieser Überlieferung, zusammen mit einer Überprüfung des Quellenmaterials zu Sira und Magazi (Geschichte der Kriegszüge von al-Waqidi, gestorben 822) waren: Erstens, die bisherigen Vorstellungen, daß Mohammed in Mekka ein Dulder und in Medina ein Politiker wurde, sind nicht mehr haltbar; zweitens, diese hatten das Ziel, die Hedschra als Gründungsakt des muslimischen Gemeinwesens zu etablieren; und drittens, "der Islam wird auf diese Weise zum bewußten Bruch Mohammeds mit seiner Herkunft aus dem quraisitischen Klan der Abd Manaf bzw. zum bewußten Bruch mit dem mekkanischen Quraisitentum stilisiert; dies ist die Deutung, die diejenigen unter den mekkanischen Hedschragenossen, die nach Mohammeds Tod die Macht okkupierten, dem Lebenswerk Mohammeds gaben".

So hat nach Nagel die Beachtung einer bislang vernachlässigten bzw. verworfenen Überlieferung es möglich gemacht, bei einem Ereigniskomplex der Lebensgeschichte Mohammeds zwischen dem wahrscheinlichen Geschehen und dessen schon sehr früh erkennbarer Zwecksetzung zu unterscheiden.

Zusammenfassend läßt sich sagen:  Tilman Nagel hat eine Prophetenbiographie auf breiter Basis vieler arabischer und externer Quellen geschrieben. Dabei geht er grundsätzlich von einem historischen Mohammed aus und folgt auch wie bisher fast alle Forscher einem in den Grundlinien für wahr angesehenen Lebensablauf, wie ihn die Sira von Ibn Hisham bietet und er im Hadith kommentiert wird. Er bleibt jedoch nicht dabei stehen, sondern seinem Mohammed wird die Geschichtlichkeit wiedergegeben, die hinter einem Schleier von zweckbestimmter Überlieferung verschwunden war. "So ist zu erklären, daß der  'islamische' Mohammed nicht als eine lebensvolle Figur vor uns steht, sondern als ein Amalgam von historisch Belegbarem mit den Interpretationen, die man ihr seit der Mitte des 7. Jahrhunderts gab. (...) So entsteht ein Bild von Mohammed, das ihn als Gesandten Allahs und Propheten in einem zeichnet und suggeriert, er sei von Geburt an auf die vielfältigen Aufgaben vorbereitet gewesen, die er in der ihm von den Muslimen zugemuteten Doppelrolle habe erfüllen müssen. Denn das Unterscheiden zwischen dem einen und dem anderen je nach den Stationen seines Lebens ist eine Sache des Muslims nicht, der für sich die Wahrheitsgarantie nicht nur bei jeder wie auch immer gearteten mit Mohammed verknüpften Überlieferung begehrt, sondern auch Gewißheit darüber fordert, daß sein Prophet selbst in den Augenblicken seiner Vita, über die nichts bekannt ist, unter der unmittelbaren und ungeschmälerten  Anleitung durch Allah stand.

In diesem Sinne wird Nagels Werk den Muslimen in ihrer übergroßen Mehrheit nicht gefallen. Für die wenigen (zum Beispiel die Ankara-Schule) unter ihnen, die sich eine gewisse historisch-kritische Sicht  meinen erlauben zu können, könnte sie vielleicht eine Hilfe sein.

 

Prof. Dr. Karl-Heinz Kuhlmann lehrt an der Evangelischen Theologischen Fakultät der Universität Leuven/Belgien.

Tilman Nagel: Mohammed. Leben und Legende. Oldenbourg Verlag, München 2008, gebunden, 1.052 Seiten, 178 Euro

Foto: Mohammed (rechts) beim Predigen, islamische Darstellung: Geschichtlichkeit wiedergegeben

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