© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/08 04. Juli 2008

Die historische Mission des Hauses Brandenburg
Preußens Thukydides: Eine Biographie erinnert an den 200. Geburtstag des Historikers Johann Gustav Droysen
Martin Schultz

Wie wir alle aus Veit Harlans "Kolberg" (1945) gelernt haben, war es nicht die Waffengewalt, sondern die moralische Widerstandskraft, die die Bürger und Soldaten der kleinen pommerschen Festung gegen vielfach überlegene napoleonische Belagerungstruppen ausharren und siegen ließ. In Harlans filmischem Heldenepos sind es Nettelbeck (Heinrich George) und Gneisenau (Horst Caspar), die darin wetteifern, den "Wir kapitulieren nie"-Geist auszuschenken. Um den historischen Tatsachen gerecht zu werden, hätte allerdings auch ein Feldprediger namens Droysen auftreten müssen. Der soll zur inneren Mobilmachung der Kolberger nämlich einiges beigetragen haben. Ebenso verbürgt sind seine rhetorischen Kriegshilfsdienste, als es 1813 darum ging, die französischen Besatzer aus Stettin hinauszufegen. Und da selbst in "großen Zeiten" immer Raum für kleine Dinge bleibt, durfte sich der militante Seelsorger Droysen nach dem Kolberger Einsatz als Garnisonspfarrer im nahen Treptow an der Rega wieder mehr um die Familie kümmern. Frau Pastor kam infolgedessen am 6. Juli 1808 mit einem Sohn nieder, der sich daran gewöhnte, auf den Namen Johann Gustav zu hören.

Der Knabe verlor seinen Vater 1816, zog aber, 1825 vom Stettiner Gymnasium abgehend, ziemlich unbeirrt seine Bahn, absolvierte das Berliner Studium im Eiltempo, biß sich als Hauslehrer und altphilologischer Steißtrommler in Berlin durch, konnte sich nebenher habilitieren und schaffte mit nur 32 Jahren den Sprung auf einen Lehrstuhl. Wenn auch nicht in der preußischen Hauptstadt, sondern im provinziellen Kiel, das 1840 noch zu Dänemark gehörte.

An der Förde geriet er mitten hinein in die schleswig-holsteinische "Erhebung" gegen Dänemark und nahm, Seit' an Seit' mit Theodor Mommsen und Lorenz von Stein, als Muster eines politischen Professors natürlich Partei für die deutsche Sache. 1848 saß der antidänische Agitator Droysen als Vertreter Holsteins in der Frankfurter Paulskirche. Die Fensterreden in der Nationalversammlung überließ er freilich anderen. Für den kleindeutschen Nationalstaat unter Preußens Fittichen glaubte er effizienter als Schriftführer im Verfassungsausschuß wirken zu können. Und Droysens Talent, den Gang der Dinge im parlamentarischen Hinterstübchen zu beeinflussen, ist jedenfalls weder am Desaster des ersten deutschen Anlaufs zum Verfassungsstaat schuld noch am militärischen Fiasko des nordelbischen Sezessionsversuchs. 

Dänische Pressionen mußte der Kieler Professor deswegen kaum fürchten. Trotzdem wechselte er 1851 nach Jena, das ihm als Sprungbrett nach Berlin dienen sollte, wo er 1859, nach emsiger Strippenzieherei in eigener Sache, endlich neben dem ungeliebten Ranke Geschichtspolitik vor großem Publikum treiben durfte. Droysens Credo war denkbar simpel und erschöpfte sich in der Werbung für Preußens "historische Mission", der die Hohenzollern vorgeblich schon gehorchten, als sie erstmals ihren Fuß auf brandenburgischen Boden setzten. Fast fünfhundert Jahre hindurch, so lautet die kühne Hauptthese in den vierzehn Bänden von Droysens "Geschichte der preußischen Politik" (1855-1886), hätten Preußens Herrscher also unermüdlich auf die Schaffung des deutschen Nationalstaates hingearbeitet. Als Droysen 1884 starb, ohne das angepeilte Ziel erreicht zu haben, die "historische Mission" des Hauses Brandenburg mindestens bis zu den Befreiungskriegen darzustellen, sahen die Jüngeren in dem Unternehmen aber lediglich noch einen Haufen Altpapier.

Trotzdem leuchtet bis heute Droysens Ruhm als preußischer pater historiae, gilt er als einer der größten Historiker, wenn auch nicht, wie er sich selbst gern einordnete, als der größte seit Thukydides. Auch das Verlagshaus C. H. Beck stand so sehr unter der Wirkung einer vorausgesetzten "Bedeutung" Droysens, daß es den Berliner Althistoriker Wilfried Nippel beauftragte, zu dessen 200. Geburtstag doch bitteschön mit einer Biographie aufzuwarten.

Nippel lieferte pünktlich. Das Geburtstagskind hätte jedoch wenig Freude an diesem Geschenk. Nippel bestätigt mit ungeheurem Aufwand, daß Droysens "neuhistorisches Opus", einschließlich der immer wieder aufgelegten, in patriotischer Absicht konzipierten Biographie des Feldmarschalls Yorck von Wartenburg (1851/52), seit langem und verdient in Vergessenheit geraten sei. Hier habe sich die Vermählung mit dem Zeitgeist, die "Verquickung von Wissenschaft und Politik ziemlich schnell" gerächt. Nur der Althistoriker Droysen, weniger als Biograph Alexander des Großen denn als Entdecker der "Geschichtswürdigkeit" des Hellenismus, weise "Haltbareres" vor, wenn auch Neuauflagen und Zitationen nicht darüber hinwegtäuschen könnten, daß nichts mehr von "forschungspraktischer Relevanz" sei.

Darüber hinaus gibt es aber noch den Geschichtstheoretiker Droysen. Dem sind im 20. Jahrhundert immerhin zwei "Renaissancen" widerfahren, um 1930 und um 1975. Mit sehr viel Geld ist in den letzten dreißig Jahren aus seinem "Grundriß der Historik" eine kritische Gesamtausgabe gezimmert worden. Angestoßen hat sie Jörn Rüsen (Bielefeld), der unermüdlich in dem unzumutbaren Kauderwelsch der 1970er Jahre den "emanzipativen", auf "freie Selbstbestimmung des Menschen" zielenden und die "Geschichte als Befreiungsprozeß" verstehenden Gehalt der "Historik" des Hegel-Schülers Droysen herausstreicht.

Einer Auseinandersetzung mit Rüsen weicht Nippel leider aus. Er gibt nur vorsichtig zu bedenken, daß es mit der "reinen Theorie" der Historik-Vorlesung auch nicht weit her sei und daß das Interesse an ihr - besonders nach 1968 -sich wohl aus der Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft in damaliger Konkurrenz zur empirischen Sozialwissenschaft wie zum akademischen Marxismus und somit aus ihrer "Funktion in inner- wie interdisziplinären Positionskämpfen" erkläre. Hinter die theoretische Kompetenz des Hermeneutikers Droysen setzen selbst so knappe Andeutungen, in denen Nippel sich zudem über sein "geschichtsreligiöses Geraune" und die "Flucht in die Metaphern" mokiert, noch ein dickes Fragezeichen. Am Ende empfiehlt sich die Beschäftigung mit Preußens Thukydides also nur noch, um wie Nippel, dessen Arbeit allein dem Paulskirchen-Intermezzo ein Fünftel des Textes opfert, Leben und Werk als exemplarisches Lehrstück über eine "vollkommen politisierte Geschichtswissenschaft" (Egon Friedell) zu begreifen.

Wilfried Nippel: Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, Verlag C. H. Beck, München 2008, gebunden, 445 Seiten, 24,90 Euro

Foto: Johann Gustav Droysen (1808-1884): Vollkommen politisiert

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen