© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/08 11. Juli 2008

Von Gefühlen bewegt
Außergewöhnliche Gemütszustände: Das Kunstmuseum in Bern präsentiert Bilder von Ferdinand Hodler
Karlheinz Weissmann

Das erste Bild der Hodler-Ausstellung im Berner Kunstmuseum zeigt ein Selbstporträt des Malers als Neunzehnjähriger. Man ist irritiert von Körper und Gesicht, der Schmächtigkeit, die durch den tristen graubraunen Rock, der in den Hintergrund übergeht, noch betont wird, die ungelenke Geste der rechten Hand, eine gewisse Stumpfheit des Ausdrucks, die so wenig auf Genie hindeutet wie die Machart des Gemäldes. Es wirkt ganz konventionell und läßt nicht ahnen, was kommen wird.

Zum Zeitpunkt, an dem der 1853 in Bern geborene Ferdinand Hodler das Bild malte, 1874, lag wenigstens die traurige Kindheit - der frühe Verlust des Vaters, der Geschwister, schließlich der Mutter durch Tuberkulose - hinter ihm. Er hatte auf Umwegen und dank seiner Zähigkeit eine künstlerische Ausbildung beginnen können, aber noch lange Jahre, in der Schweiz und dann in verschiedenen europäischen Ländern auf Wanderschaft, sollten von drückender Armut bestimmt sein. Wenn man Hodlers Selbstporträts nimmt, wird allerdings die Veränderung unübersehbar. Sein Gesicht nahm allmählich jenen Ausdruck von Entschlossenheit und Energie an, der auch seine Kunst bestimmen sollte, ihre Kraft, das Frappierende, manchmal fast Brutale ihrer Wirkung.

Im letzten Jahrzehnt des 19. und im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurde Hodler einer der wichtigsten Repräsentanten des Symbolismus. Er wandte sich mehr und mehr von den Regeln des akademischen Betriebs ab, verzichtete auf das Gefällige der Genremalerei, die Ausführung der Details und arbeitete mit Andeutungen und starken Farbeffekten, gleichzeitig hellte sich seine Palette sichtbar auf und der Pinselstrich wurde feiner. Wie alle Symbolisten wollte er einer tief empfundenen inneren Wahrheit künstlerischen Ausdruck verleihen, und wie besessen war er davon, durch Wiederholung der Bildelemente - seinen "Parallelismus" - die Wahrnehmung der "Einheit" in den Erscheinungsformen zu ermöglichen.

Eine erste Arbeit dieser Phase - "Die Lebensmüden" (1887) - zeigt fünf sitzende Männer nebeneinander, in helle Kutten gehüllt, die Gesichter, die Körpersprache und die Hände von Resignation gekennzeichnet; die äußeren Figuren weißhaarig und weißbärtig, die folgenden mit dunklem Haar und Bart, dann in der Mitte fast wie ein gemarterter Christus (christliche Motive spielten sonst kaum eine Rolle) einer, bartlos, den Leib von Tüchern umwickelt, ganz zusammengesunken, im Gegensatz zu den übrigen ohne "Haltung", der den Eindruck vermittelt, sich völlig aufgegeben zu haben.

Für die Zeitgenossen wirkte der Symbolismus anfangs irritierend. Hodlers Gemälde "Die Nacht", das friedlich Schlafende, allein oder als Paare, darstellt, in deren Mitte ein Mann entsetzt auffährt, weil ein Alb sich auf seinen Unterleib gehockt hat, löste bei der ersten Präsentation in Genf 1891 einen Skandal aus. Aber wenige Monate später wurde das Bild in Paris gezeigt und begeistert aufgenommen. Hodler war jedenfalls kein zu Lebzeiten Verkannter. Die Interessierten und weitere Kreise des Bürgertums zeigten sich der neuen Richtung gegenüber aufgeschlossen, und Hodler rückte seit der Jahrhundertwende fast zum schweizerischen Staatskünstler auf.

Das hing auch mit dem wachsenden Einfluß neuer geistiger Strömungen zusammen, die nietzscheanisch oder wenigstens vitalistisch gerichtet waren, lebensreformerisch und sozialkritisch, spirituell, aber kirchenfeindlich, theosophisch, anthroposophisch, pansophisch. Hodler konnte in vieler Hinsicht als Repräsentant dieser Suchbewegungen gelten, wenngleich er ihre Wünsche und ihre Mythen auf einem sonst nicht erreichten künstlerischen Niveau ausdrückte: von seinen Landschaftsbildern, die meistens die heimatliche Bergwelt darstellten, über die Porträts verschiedener Art, bis zu den großformatigen Bildern programmatischen Charakters, die seinen eigentlichen Ruhm ausmachten.

Die Ausstellung des Berner Kunstmuseums zeigt die wichtigsten dieser Arbeiten, großzügig gehängt und sachkundig vorgestellt; genannt seien in diesem Zusammenhang vor allem "Der Tag" (1899), "Die Empfindung" (1901/02), "Lied aus der Ferne" (1906), "Die Heilige Stunde" (1911) und zuletzt noch "Blick in die Unendlichkeit" (1916). Sie stellten regelmäßig Menschen in außergewöhnlichen Gemütszuständen dar: verzweifelt, träumend, erwachend, anbetend, versunken, ekstatisch. "Ich male den menschlichen Körper", schrieb Hodler, "wenn er bewegt ist von seinen Gefühlen, jede Empfindung hat ihren Gestus. Ich will also einen allgemeinen Grund für die Körperbewegung. (...) Die Empfindungen haben ihren Gemeinpunkt im Gefühl."

Auch die Bilder, die Hodler vom langen Leiden seiner letzten Geliebten, Valentine Godé-Darel, angefertigt hat, gehören in diesen Zusammenhang. Denn Hodlers Feier von Leben und Jugend war nie naiv, sondern hatte einen dunklen, immer präsenten Hintergrund, der durch seine Biographie und überhaupt vom Bewußtsein der Vergänglichkeit bestimmt war. Das erklärt hinreichend, warum die Skizzen, Zeichnungen und Ölgemälde zu Krankheit und Tod der Godé-Darel, die in Bern in einem eigenen Raum zusammen gezeigt werden, nichts Voyeuristisches an sich haben. Sie legen Zeugnis ab von der Liebe zweier Menschen und von der Wirklichkeit des Todes. "Er ist schrecklich, aber er ist schön, weil er das individuelle Sein mit dem Ganzen verbindet, weil er auf einmal das Mysterium und das Unendliche ist und weil er ist", notierte Hodler.

Als diese Bilder entstanden, hatte der Erste Weltkrieg längst begonnen. Zwar blieb die Schweiz neutral, aber Hodler selbst nahm Partei: gegen Deutschland, indem er den "Genfer Protest" unterzeichnete, mit dem Künstler auf Initiative Frankreichs ihre Empörung über die deutsche Beschießung der Kathedrale von Reims zum Ausdruck brachten. Eine Episode, die heute längst vergessen ist, aber einen deutlichen Bruch in der Wirkungsgeschichte Hodlers zur Folge hatte. Vor 1914 besaß er in Deutschland seine glühendsten Verehrer, und die verschiedenen neuromantischen und neuidealistischen Bewegungen betrachteten gerade seine Bilder als kongenialen Ausdruck der eigenen Vorstellungswelt. In vielen Bürgerhäusern, aber auch in Wandervogelnestern, hingen Reproduktionen seiner Arbeiten, und als 1909 Hodlers Wandgemälde "Auszug der Freiwilligen von 1813" in der Aula der Jenaer Universität enthüllt wurde, waren die Kommentare voller Begeisterung.

Die wechselseitige Enttäuschung zwischen den Deutschen und Hodler hat seinen Rang natürlich nicht nachhaltig in Frage gestellt, wenngleich bei seinem Tod 1918 der Symbolismus mit der alten Welt versunken war. Er gehörte längst - und das macht die Berner Ausstellung auf wunderbare Weise deutlich - zu den Großen der Kunst.

Die Ausstellung "Ferdinand Hodler - Eine symbolistische Vision" ist noch bis zum 10. August im Kunstmuseum der Stadt Bern, danach vom 9. September bis 14. Dezember im Museum der Schönen Künste in Budapest zu sehen.

Der empfehlenswerte Katalog  mit 416 Seiten und mehr als vierhundert Abbildungen kostet in der Ausstellung 68 SFr.

Fotos: Ferdinand Hodler, Valentine Godé-Darel im Krankenbett (Öl auf Leinwand, 1914): Zeugnis von der Liebe zweier Menschen; Ferdinand Hodler, Die Nacht (Öl auf Leinwand, 1889/1890): Erst löste das Bild einen Skandal aus, dann wurde es begeistert aufgenommen

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