© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/08 11. Juli 2008

Die Diktatoren waren im Bilde
Streit um Präventivkrieg
Stefan Scheil

Über die Frage, ob und in welchem Sinn der deutsche Angriff auf die UdSSR im Juni 1941 als Präventivkrieg gelten kann, wird weiterhin gestritten. Jüngst wurde auf Bogdan Musials Nachweis der langfristigen Angriffspläne Stalins seit 1929 hingewiesen (JF 17/08). Heinz Magenheimer ergänzte dies am gleichen Ort dahingehend, daß solche Angriffspläne 1941 verwirklicht werden sollten (JF 26/08). Magenheimer wie Musial erklären, Stalin wie Hitler hätten von den Angriffsplänen der Gegenseite im Jahr 1941 jeweils nichts gewußt. Nun gibt es Dokumente, die gegen diese Auffassung sprechen.

Am 15. Mai 1941 wies Georgij Schukow, Generalstabschef der Roten Armee, Stalin auf die neueste Entwicklung an der deutsch-russischen Grenze hin: "Wenn man in Betracht zieht, daß Deutschland sein gesamtes Heer einschließlich rückwärtiger Dienste mobilisiert hat, so besteht die Möglichkeit, daß es uns beim Aufmarsch zuvorkommt und einen Überraschungsschlag führt." (Hervorhebung im Original) Dieser Gefahr wollte Schukow durch Beschleunigung der eigenen Offensive begegnen, wobei er Stalin darauf hinwies, Befehle für den Übergang der Roten Armee zum Angriff seien bereits gegeben. Dies ist ein wichtiger Beweis dafür, daß die deutschen Vorbereitungen in der Führung der UdSSR bekannt waren und dort zu Reaktionen führten. Folgerichtig zeigte sich Stalin vom Angriff auch nicht überrascht, wie es später kolportiert wurde.

Auf der deutschen Seite stand der Diktator selbst als treibende Kraft hinter den Angriffsplänen. Wie häufig vor großen militärischen Entscheidungen versuchte er den Generalstab von der Notwendigkeit der von ihm gegebenen Befehle zu überzeugen. Dabei wies Hitler am 14. Juni 1941 ausführlich auf die Details des sowjetischen Aufmarschs hin, insbesondere auf die Anlage unzähliger Flugplätze in unmittelbarer Grenznähe, die sich nicht anders denn als Vorbereitung zu einer Offensive deuten lasse. Es handelte sich, wie heute bekannt ist, um eine zutreffende Einschätzung, was Art und Zweck der sowjetischen Vorbereitungen betraf. Eine Woche vorher hatte er in einem Tischgespräch geäußert, der sowjetische Aufmarsch sei "der größte der Geschichte". Demnach liegen für beide Kriegsparteien klare Belege vor, daß die Angriffsvorbereitungen der jeweiligen Gegenseite bekannt waren. Da sie zunächst von der UdSSR ausgingen, kann das Unternehmen Barbarossa im engeren Sinn als Präventivkrieg gelten.

 

Dr. Stefan Scheil ist freier Historiker. Zur Vorgeschichte des deutschen Angriffs auf die UdSSR veröffentlichte er auch: "1940/41- die Eskalation des Zweiten Weltkriegs", (Olzog, München 2005)

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