© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/08 11. Juli 2008

Debatte: Grundeinkommen. Erste Folge
Befreit sein zur Arbeit
von Götz W. Werner

Enormen Produktivitätszuwächsen in der Wirtschaft stehen ungleiche Verteilung der vorhandenen Erwerbsarbeit und strukturelle Arbeitslosigkeit gegenüber. Nicht wenige Menschen leiden unter dem Warencharakter der Arbeit. Kann ein bedingungsloses Grundeinkommen die Krise des Wirtschaftslebens lösen helfen? Die Debatte auf dem Forum beginnt mit einem Beitrag des Drogerieunternehmers Götz Werner, der seit Jahren ein Grundeinkommen für jeden Staatsbürger fordert. In JF 31-32/08 wird der Jurist Florian Wolfrum die Serie mit einer Entgegnung fortsetzen. (JF)

 

Wovon frühere Generationen in unserem Land nur träumen konnten, ist Wirklichkeit geworden: Nie zuvor war eine so gute Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen für die breite Bevölkerung möglich. Wir produzieren insgesamt - wenn auch nicht alle daran ausreichend teilhaben - mehr, als wir verbrauchen können: Wir leben also in vergleichsweise paradiesischen Zuständen.

Was diese Zustände für viele Menschen jedoch alles andere als paradiesisch macht, ist die damit einhergehende steigende Arbeitslosigkeit. Diese wiederum ist das Ergebnis derselben Optimierungen, die zu einer immer besseren Versorgung der Menschen mit immer geringerem Arbeitsaufwand geführt hat. Die derzeitig bestehende Arbeitslosigkeit muß also im Grunde als ein großer Erfolg angesehen werden. Allerdings hat in unserer Gesellschaft ein Teil der Menschen dadurch immer weniger zum Leben. Die Frage drängt sich auf, ob das angesichts der hohen Produktivität nötig ist. Liegt der Engpaß in unserer Leistungsfähigkeit oder in unseren veralteten Verfahren der Einkommenszumessung?

In der Politik gilt die Schaffung von Arbeitsplätzen zum Erreichen der "Vollbeschäftigung" durch Wirtschaftswachstum weiterhin als oberstes Ziel. Die Probleme können jedoch nicht mit denselben Methoden gelöst werden, die diese Probleme verursacht haben. Es kann außerdem - so paradox das klingt - nicht die Aufgabe der Wirtschaft sein, Arbeitsplätze zu "schaffen".

An diesem Punkt wird deutlich, daß nur ein radikales Umdenken bei gleichzeitiger Überwindung herkömmlicher Denkgewohnheiten aus der Sackgasse führen kann. Das Gewordene muß hinterfragt und neue Erkenntnisse in die bestehende Prozesse integriert werden. Aus dieser Einsicht resultiert die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen (Götz Werner: "Einkommen für alle", JF 13/07).

Zunächst muß die enge Verkoppelung von Arbeit und Einkommen, die die hohe Arbeitslosigkeit mit herbeigeführt hat, gelöst und neu gedacht werden. Im herkömmlichen, rein erwerbswirtschaftlichen Arbeitsbegriff sind beide scheinbar notwendig miteinander verknüpft: "Wer essen will, muß arbeiten." In Wirklichkeit handelt es sich jedoch um eine überholte gesellschaftliche Konvention aus den Zeiten der Selbstversorgung. Tatsächlich sind unsere Arbeit und unser Einkommen heute bereits fast vollständig voneinander getrennt: Anders als in der Selbstversorgung lebt niemand mehr von dem, was er mit seiner Hände Arbeit produziert.

Wir müssen den Zusammenhang heute also neu fassen: Das eine ist unser Einkommen, das benötigt wird, um unsere Bedürfnisse durch Konsum befriedigen zu können, das andere ist unsere Arbeit, durch die wir uns in die Gesellschaft einbringen, um Leistungen für andere zu erzeugen. Wirtschaften ist durch die moderne Arbeitsteilung zu einem Füreinander-Leisten geworden.

Die Voraussetzung für einen solchen möglichen neuen Denkansatz ist ein grundsätzlicher Bewußtseinswandel in unserem Verhältnis zur Gesellschaft. Ein solches Umdenken hat Rudolf Steiner schon 1906 als notwendig erachtet. Er bezeichnete dies als ein soziales Hauptgesetz: "Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist um so größer, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen anderer befriedigt werden. (...) Worauf es also ankommt, das ist, daß für die Mitmenschen arbeiten und ein gewisses Einkommen erzielen zwei voneinander ganz getrennte Dinge seien."

Was ist das bedingungslose Grundeinkommen? Jeder Bürger, gleich, ob Kind, Student, Erwerbstätiger, Arbeitsloser oder Rentner, bekommt einen - gegebenenfalls altersabhängigen - Betrag. Dieses Grundeinkommen muß vom einzelnen nicht gerechtfertigt und begründet werden, es muß keine Bedürftigkeit nachgewiesen und auch keine Sozialarbeit im Austausch geleistet werden. Diskriminierende und verwaltungsaufwendige Prozeduren der Anspruchsprüfung entfallen. Das Grundeinkommen steht jedem zu und sichert jedem ein ausreichendes Einkommen für seine materielle Existenz und kulturelle Entwicklung. Es ist kein erweitertes Sozialgeld, sondern entstammt dem unbefangenen Blick auf die Priorität: Freiheit und Würde jedes Menschen.

Ist die wirtschaftliche Lebensgrundlage durch ein Grundeinkommen gesichert, entfällt die existentielle Abhängigkeit von Lohn und Gehalt. Der Mensch ist befreit zu Arbeit, die seinen Fähigkeiten und Neigungen entspricht. Schwere Arbeit muß dann besser bezahlt werden, schlechte Arbeitsverhältnisse und fragwürdige Produkte würden lohnintensiver. Auch der Anreiz zur Rationalisierung stiege. Wir müssen Ersatz für Tätigkeiten finden, in denen Menschen keinen Sinn bei ihrer selbstbestimmten Lebensgestaltung mehr sehen. Zudem würde ein Grundeinkommen zunächst nur an Staatsbürger gezahlt; das Gemeinwesen der Bundesrepublik Deutschland kann nicht gefordert sein, für Menschen außerhalb dieser Gemeinschaft ein Grundeinkommen sicherzustellen.

Das bedingungslose Grundeinkommen ermöglicht jungen Menschen Ausbildung und Studium ohne finanzielle Abhängigkeit von den Eltern, es sichert ein Einkommen im Alter und vereinfacht zum Beispiel auch die Bildung und Auflösung von Lebenspartnerschaften. Die Leute wären auch viel eher bereit, eine Familie zu gründen, wenn Kinder kein Armutsrisiko mehr sind. Auch ein Sabbat-Jahr, kreative Lebensphasen und Muße werden durch ein Grundeinkommen erschwinglich. All das würde zu Entspannung im sozialen Klima führen.

Trotz dieser Grundabsicherung würden die meisten Menschen arbeiten wollen; dies bestätigen auch wissenschaftliche Studien. Die Vorstellung, daß der Mensch von Natur aus faul ist und seine Zeit vor dem Fernseher verbringt, wenn die Existenzangst ihn nicht zur Arbeit zwingt, ist zwar weit verbreitet. Interessanterweise glauben die meisten dies nur von ihren Mitmenschen, weisen es für sich selbst aber zurück.

Arbeit wird zu einer freiwillig - gleichwohl durchaus gegen Entgelt - erbrachten Leistung gemäß dem persönlichen Potential und im für sinnvoll empfundenen Umfang und Zeitrahmen. Arbeitsverträge würden flexibel gestaltet. Die Unternehmen würden sich anstrengen, um attraktive Arbeitsplätze anzubieten. Die Menschen wären motiviert, weil sie nun das machen könnten, was sie für sinnvoll halten. Unternehmerische Initiative kann sich auf dieser Grundlage leichter entwickeln. Die Angst vor dem Scheitern, die heute das größte Hemmnis für die Selbständigkeit ist, wäre gebannt.

An der Frage eines bedingungslosen Grundeinkommens wird sich erweisen, ob ein Staatswesen ein obrigkeitsstaatliches Selbstverständnis hat oder ob es ihm ernst ist mit der geforderten Freiheit und Selbstverantwortung der Bürger, die durch ein funktionierendes Wirtschaftsleben ermöglicht sind. Die derzeit diskutierten Alternativen scheinen allerdings darauf hinauszulaufen, den Bürger bei zunehmend produktiver Wirtschaft immer mehr an ein sozialstaatliches Gängelband zu legen, anstatt ihm durch ein Grundeinkommen bürgergesellschaftliche Freiheit zuzugestehen, also eine freiheitliche Gesellschaftsordnung Realität werden zu lassen.

Freiheit bedeutet immer Freiheit zur selbstbestimmten Gestaltung von Zeit, von Lebenszeit; das kann und wird bei volkswirtschaftlich abnehmender abhängiger und weisungsgebundener Beschäftigung auch bedeuten: mehr Zeit für selbstbestimmte Tätigkeit. Um mit Rousseau zu sprechen: "Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, daß er tun kann, was er will, sondern darin, daß er nicht tun muß, was er nicht will."

Um ein Grundeinkommen in der vorgestellten Form für alle Bürger zu finanzieren, gibt es zwei Wege, die auch in Kombination realisiert werden können: Bei Zusammenfassung aller jetzigen Sozialleistungen zu einem Grundeinkommen stehen hierfür über 720 Milliarden Euro zur Verfügung. Differenzbeträge - etwa durch den Vertrauensschutz und Bestandswahrung von Rentenansprüchen - sind durch eine Konsumsteuer finanzierbar. Schon heute werden jährlich durch die Transfersysteme über 7.500 Euro pro Bürger verteilt (Hohenleitner und Straubhaar 2007) in Form von Zuschüssen an Rentenkassen, Kinder- und Wohngeld, Arbeitslosengeld, BAföG etc. Durch heute gewährte Steuerfreibeträge kommen noch einmal geschätzte 200 Milliarden Euro hinzu (Hardorp 2007). Damit erhalten schon heute alle Bürger ein Existenzminimum. Ein Grundeinkommen auf dieser Basis wäre ein Weg.

Ein weiterer Weg besteht in einer Weiterentwicklung des Steuerwesens. Schon heute sind alle Steuern Teil der Wertschöpfung und damit in den Preisen für Güter und Dienstleistungen enthalten. Eine schrittweise Umsteuerung zur Konsumsteuer (Mehrwertsteuer) bei gleichzeitiger Reduzierung und schließlich Abschaffung aller übrigen Steuern würde dies transparent machen. Unsere heutigen, im wesentlichen auf nominellen (geldlichen) Größen basierenden, Steuererhebungsformen der Einkommens- und Ertragsbesteuerung gehen auf eine Zeit zurück, in der ein Großteil der Menschen noch in naturaler Selbstversorgung lebte.

In einer solchen Gesellschaft und Wirtschaft ist der Staat darauf angewiesen, die Bürger an ihren Einkommensquellen zu besteuern. Heute jedoch, da unser Wirtschaftsleben von hoher Interaktion und Transaktion gekennzeichnet ist, wo der einzelne nicht mehr das konsumiert, was er selbst produziert, wo er also fast ausschließlich für andere leistet, ist dieses System nicht mehr zeitgemäß.

Als Konsumenten müssen wir ein Interesse daran haben, daß derjenige, der Leistung für uns erbringt, dies möglichst ungestört tun kann. So tendiert die Entwicklung unserer Steuereinnahmen richtigerweise auch ihrer Erhebungsform nach immer mehr zu einer Besteuerung des Konsums (Erhöhung der Mehrwertsteuer).

Es wird nicht mehr die Erbringung der Leistung besteuert, sondern deren Konsum. Wer viel konsumiert, viel Leistung anderer für sich in Anspruch nimmt, trägt durch seine Steuern dann auch besonders viel zur Finanzierung des Gemeinwesens bei. Das ist im Steuerlichen der äußere Ausdruck des Übergangs von der Selbstversorgungs- zur Fremdversorgungswirtschaft.

Schon heute bezieht der Staat in der Mehrwertsteuer den größten Einzelposten seiner Steuereinnahmen. Mit welcher Begründung kann den Bürgern ein Steuerfreibetrag für die Mehrwertsteuer damit noch vorenthalten werden?

Die Umstrukturierung des Steuerwesens zu einem konsumbasierten Steuersystem wirft die Frage auf: Wo ist in der Mehrwertsteuer der Steuerfreibetrag? Um zu sichern, daß bei zunehmender Konsumbesteuerung der einzelne seinen Mindestbedarf steuerfrei konsumieren kann, ist eine Auszahlung des Geldbetrages vorzunehmen, der in diesem Mindestkonsum als Konsumsteuer enthalten ist.

Es wird deutlich, daß die für die Zahlung eines Grundeinkommens erforderlichen Geldströme bereits heute weitgehend fließen. Lediglich die Buchungsposition ändert sich, wenn sie künftig nicht mehr als Sozialleistung oder Lohn (anteilig), sondern als Grundeinkommen gezahlt werden: Wenn in Deutschland die erhöhten Konsumsteuereinnahmen nicht unmittelbar in den allgemeinen Staatsetat fließen, sondern zur Finanzierung eines bedingungslosen Grundeinkommens herangezogen werden. Dadurch können im gleichen Zeitraum die bisherigen Einkommensbezüge - Löhne, Gehälter, Sozialleistungen/Transferzahlungen - um den Betrag des Grundeinkommens (pro Person) gesenkt werden. Langfristig können alle Steuern außer der Konsum- oder Mehrwertsteuer entfallen.

Die substitutive Wirkung des Grundeinkommens hat im Wirtschaftsleben vor allem zwei Entwicklungen zur Folge: Die Lohnkosten können sinken, die von den Unternehmen in der Arbeitsteilung und Fremdversorgung stets an die Kunden weitergegeben werden. Auch die im Export entscheidenden Nettopreise (ohne Mehrwertsteuer) würden tendenziell in gleichem Umfang sinken. Dies führt bei steigender Konsumbesteuerung im Ergebnis zu etwa konstanten Endverbraucherpreisen. Hinzu kommt die Verwaltungsentlastung der öffentlichen Hand. Der Staat kann die bereits heute bestehenden Transferzahlungen an Bürger - in Form von Renten, Pensionen, Kindergeld oder Entlohnung seiner Angestellten, Politiker und Beamten - in die durch das Grundeinkommen erhöhte "Staatsquote" (Steuern und Sozialabgaben) einbeziehen, was die aufzubringende Gesamtlast nicht erhöhen, die Verwaltungskosten aber entscheidend verringern würde.

Der "Marsch in die Konsumsteuer" ist also nichts, wovor wir uns ängstigen müßten, sondern lediglich eine Konsequenz der hervorragenden, von Arbeitsteilung und wachsenden Einkommensübertragungen begleitetenwirtschaftlichen Entwicklung unserer Gesellschaft. Es handelt sich um einen aufkommensneutral zu gestaltenden Umbau der Steuererhebung. Auch die Unternehmenssteuern können in diesem Zuge gesenkt und am Ende abgeschafft werden. Schon heute sind sie in den Preisen enthalten.

Das bedingungslose Grundeinkommen würde die heutigen Gegensätze von hohem Einkommen, steigender Produktivität und niedrigen Löhnen überwinden. Was sind die Alternativen? Wollen wir zu den Zeiten geringer Produktivität zurückkehren? So abwegig dies erscheinen mag: Die Forderung nach Niedriglohnjobs, nach Annahme von "zumutbarer Arbeit" und die Schaffung eines Niedriglohnsektors schlagen im Ergebnis genau dies vor; ebenso stellt die Forderung, Unternehmen sollten "mit stumpferem Bleistift" rechnen, eine Erhöhung des Beschäftigungsgrades auf Kosten der Produktivität dar. Wer würde angesichts der Absurdität mancher Arbeitsplatzbeschaffungsmaßnahmen, bei denen selbst die sinnlosesten Tätigkeiten mit der "Übung und Vorbereitung auf richtige Arbeit" gerechtfertigt werden, noch an der Gängelung des Bürgers und dem gleichzeitigen Rückfall in niedrigere Produktivität zweifeln? Hier kann die Zukunft nicht liegen.

Die Zukunft der Demokratie setzt auf freie Bürger. Ein Gemeinwesen und ein Staatswesen, denen es mit dieser Freiheit ernst ist und für die "Freiheit" nicht nur das Abgeben von Verantwortung und Lasten an den Bürger ist, kann die Augen vor den Möglichkeiten eines bedingungslosen Grundeinkommens nicht verschließen; um so weniger in einem Wirtschaftsleben, daß so sehr Zeit an Geld knüpft wie das unsrige. Gerade heute sind die Chancen für diese Freiheit aufgrund unserer hohen Produktivität größer denn je. Ergreifen wir sie?

(Lesen Sie eine Langfassung dieses Beitrags unter www.jungefreiheit.de)

 

Prof. Götz W. Werner, 64, ist Gründer der Drogeriemarktkette dm. 1977 gestaltete er das Unternehmen auf der Grundlage der Philosophie Rudolf Steiners und der von Bernard Lievegoed begründeten Organisationsentwicklung um. Mitte Mai wechselte er von der Geschäftsführung in den Aufsichtsrat. 2003 wurde Werner zum Professor des Instituts für Entrepreneurship der Universität Karlsruhe ernannt. Der bekennende Anthroposoph wirbt seit 2005 öffentlich für ein bedingungsloses Grundeinkommen (JF 46/06) und gründete dazu die Initiative "Unternimm die Zukunft".

Foto: Rembrandt, "Die Arbeiter im Weinberg" (1637): Nur ein radikales Umdenken kann aus der Sackgasse führen

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