© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/08 18. Juli 2008

Ökonomisch rationales Verhalten
USA: Das Riesenproblem der steigenden Energie- und Rohstoffpreise können weder vollkommen freie Märkte noch staatliche Eingriffe lösen
Elliot Neaman

Anfang Juli übersprang der Barrel­preis für die US-Ölsorte West Texas Intermediate (WTI) erstmalig die 145 Dollar-Marke. Mit dem WTI-Preis steigen auch die Ängste vor einer scharfen Rezession. Immer mehr Leute fragen sich, ob auch die Amerikaner nun zur Einsicht kommen und ihren spritfressenden Riesenschlitten und sonstigen Umweltsünden entsagen. Wie der Ökonom diese Frage beantwortet, wird ganz davon abhängen, wie seiner Ansicht nach das Verhalten der Märkte dasjenige des Menschen beeinflußt.

Im 20. Jahrhundert prägten hauptsächlich zwei unterschiedliche Lehren das Wirtschaftsdenken in der westlichen Welt: Die erste, nach dem britischen Ökonomen John Maynard Keynes (1883-1946) benannte geht von einer inhärenten Instabilität der Märkte aus, die spekulationsbedingt ständigen Auf- und Abschwüngen unterworfen sind. Deshalb sei es Aufgabe der Regierungen, in ökonomischen Krisenzeiten durch Regulierung und Intervention für Stabilität zu sorgen. Die staatlichen Beschäftigungsprogramme in Deutschland wie in den USA während der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren waren von den Grundsätzen des Keynesianismus geleitet. Ankurbelungsmaßnahmen und Kreditfinanzierung mögen zur Überwindung der Großen Depression beigetragen haben, manche Ökonomen halten eher den bevorstehenden Weltkrieg für den ausschlaggebenden Faktor.

Die zweite Schule, deren wichtigste Vertreter die Nobelpreisträger Friedrich von Hayek (JF 29/08) und Milton Friedman (JF 50/06) waren, sieht staatliche Eingriffe in die Märkte als schädlich an, da sie unbeabsichtigte und zumeist unerwünschte Resultate zeitigten. Hayek sagte schon 1944 in seinem provokanten Werk "The Road to Serfdom" voraus, daß der Sozialismus jedweder Couleur ein "Weg in die Knechtschaft" sei.

In den 1980er Jahren setzten Margaret Thatcher und Ronald Reagan Friedmans Ideen um, indem sie in Großbritannien und den USA die Märkte deregulierten und die Macht der Gewerkschaften schwächten. Es gibt Wirtschaftswissenschaftler, die in dieser Rückkehr zur neo-klassischen Wirtschaftslehre die Haupt­ursache für das Reformdenken sehen, das zunächst zum Sturz des real existierenden Kommunismus und in der Folge zur weltweiten Verbreitung marktwirtschaftlicher Vorstellungen führte.

In jüngerer Zeit setzte sich zunehmend eine neue Denkweise durch, die "behavioristische Wirtschaftslehre". Sie kombiniert die wertvollsten Einsichten beider bislang dominierenden Schulen zu einer Synthese, die zugleich deren blinde Flecken ausmerzt. Der 1996 verstorbene Stanford-Wissenschaftler Amos Tversky und der Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahnemann gelten als Pioniere dieser Richtung, die Erkenntnisse aus der kognitiven Psychologie mit Hilfe mathematischer Modelle für die Wirtschaftswissenschaften nutzbar macht. Ihre komplexen Theorien verweisen auf eine sehr einfache und doch grundlegende Konstante: Aufgrund eingefleischter vernunftwidriger Vorurteile sind die Menschen oft sehr schlecht in der Lage, Risiken richtig einzuschätzen und ihr Verhalten entsprechend zu ändern. Vor noch so klare Alternativen gestellt, treffen sie törichte Entscheidungen, weil ihnen ihre Optionen auf eine bestimmte Art und Weise präsentiert werden und sie sich auf irrelevante oder unbrauchbare Informationen verlassen.

Ein Beispiel ist das Autofahren. Statistisch gesehen ist das Risiko eines Verkehrsunfalls sehr viel höher als das, mit dem Flugzeug abzustürzen, von einem Haifisch angegriffen oder vom Blitz getroffen zu werden. Dennoch schätzen die meisten Menschen die Wahrscheinlichkeit, mit dem Auto zu verunglücken, geringer ein als die drei anderen Gefahren. Entsprechend besagt die behavioristische Lehre, daß menschliche Befindlichkeiten häufig vernünftige Kalkulationen und damit ein rationales Verhalten der Märkte verhindern, und berücksichtigt diese Realität in ihren Modellen.

Wendet man diesen Ansatz auf die gegenwärtige Energiekrise an, so zeigt sich, daß die Amerikaner eigentlich recht vernünftig auf die Ölpreisralley reagiert haben. Als er im Laufe der siebziger Jahre unter anderem aufgrund von Handelsembargos von unter 20 Dollar pro Barrel auf einen Höchststand von 70 US-Dollar zu Beginn der Achtziger anzog, begannen sie kleinere Wagen zu kaufen, langsamer zu fahren und sich nach Alternativen wie Solar- und Windkraft umzusehen. In den neunziger Jahren fiel der Ölpreis wieder drastisch - 1998 lag er bei 10 Dollar pro Barrel. Angesichts von Benzinpreisen von umgerechnet 50 bis 60 Eurocent pro Liter schafften sich viele Amerikaner riesige Geländewagen (SUVs) oder Minibusse (VANs) an und zogen weiter aus den Städten heraus, wo die Häuser billiger, aber die Anfahrtswege zur Arbeit lang waren.

Am 11. September 2001 betrug der Ölpreis 20 Dollar pro Barrel, heute das Siebenfache. Und wiederum reagieren die Amerikaner augenscheinlich rational, indem sie zunehmend auf japanische Fahrzeuge mit Hybridantrieb oder kleinere Modelle umsteigen. In den Autohäusern sind SUV & Co. inzwischen Ladenhüter, bei General Motors gingen die Verkäufe im Juni um 18 Prozent, bei Ford um 28 und bei Chrysler sogar um über ein Drittel zurück. Die Preise für durstige Gebrauchte sind in letzter Zeit um über 20 Prozent gefallen.

Stellen solche Entscheidungen aber tatsächlich eine rationale Reaktion auf die Energiekrise dar? Auf makroökonomischer Ebene erschwert dieses Verbraucherverhalten - das Hin- und Herschwanken zwischen verschiedenen Fahrzeugarten, das allein durch den Tagespreis des Benzins an der Zapfsäule bestimmt wird - eine vernünftige Energiepolitik. Die heißesten Aktien, die derzeit an der Börse gehandelt werden, sind die von Solarkraftanbietern wie First Solar, dessen Marktwert sich in weniger als einem Jahr verdreifacht hat.

Was wäre aber, wenn die hohen Rohstoffpreise einer Spekulationsblase geschuldet sind, die kurz vorm Platzen steht? An diese Hypothese glaubt etwa der weltbekannte Finanzinvestor George Soros, der immerhin einige Ahnung davon hat, wie Märkte funktionieren. Im Falle, daß Spekulanten, die den Ölpreis in die Höhe getrieben haben, auf einmal samt und sonders aussteigen, würde er so rapide wieder fallen, wie er zuvor nach oben geschnellt ist. Womöglich wäre das auch das Ende des ganzen "guten" Benehmens, das die Amerikaner zuletzt an den Tag legten, indem sie sich ernsthaft um die Erschließung alternativer Energiequellen bemühten.

Wenn die US-Regierung eine rationale behavioristische Wirtschaftspolitik betreiben wollte, könnte sie die Besteuerung verändern, um einen Benzinpreis von über vier US-Dollar pro Gallone (umgerechnet etwa 68 Eurocent pro Liter) zu garantieren - gerade hoch genug, um das Fahrverhalten der Bürger zu ändern. So hält es Europa im Grunde seit Jahren - dank der viel höheren Treibstoffsteuern in den EU-Ländern zahlt der europäische Verbraucher doppelt bis dreifach soviel für Benzin wie in den USA. Daher fahren Europäer sparsamere Autos, stellen ihr Konsumverhalten stärker auf alternative Energien um und leben in Städten mit guten öffentlichen Nahverkehrsnetzen.

Tatsächlich stellt die städtebauliche Entwicklung in den USA eine viel grundlegendere Herausforderung dar als die schwankenden Energiepreise. Anders als in Europa hat der billige Treibstoff hier den Verfall der Innenstädte und die Entstehung von Vorstädten und außerstädtischen Wohngebieten (exurbs) begünstigt, die weiter und weiter von den Stadtzentren entfernt liegen und nur mit dem Auto zu erreichen sind. Allen Wiederbelebungsversuchen in den Innenstädten zum Trotz leben nur noch dreißig Prozent der US-Bürger in städtischen Kernzonen.

Ob die Amerikaner endlich aufwachen und ihrem verschwenderischen Lebensstil reumütig den Rücken kehren werden? Wie in Europa wird es am anderen Ufer des Atlantik dennoch nicht so bald aussehen. Ähnlich wie viele Europäer eine "Amerikanisierung" ihrer Lebenswelt fürchten, empfinden Amerikaner das europäische Vorbild eher als Abschreckung: gesichtslose Bürokraten, die das gesellschaftliche Zusammenleben mit endlosen Vorschriften ersticken. Sie ziehen ein gewisses Maß an kreativem Chaos der öden Ordnung vor.

Selbst der demokratische Präsidentschaftskandidat, der wie die Mehrzahl seiner Parteifreunde das republikanische Motto einer "schlanken Regierung" für veraltet und verbraucht hält, legt gewisse libertäre Neigungen an den Tag. Barack Obamas Wahlkampfprogramm zielt eher darauf ab, den Bürgern bessere und besser strukturierte Alternativen anzubieten statt umfassender neuer staatlicher Maßnahmen.

Das beste Ergebnis der derzeitigen Energiekrise sähe so aus, daß die Preise auf dem Weltmarkt der Rohstoffe hoch bleiben und sogar noch weiter steigen würden. Darunter hätte der Normalverbraucher zwar zu leiden, doch wäre dies ein stärkerer Ansporn für notwendige Innovationen und die Umstellung auf eine nicht mehr vom Öl abhängige Lebens- und Wirtschaftsweise als jede Regierungsmaßnahme.

Trotz Soros' Warnung vor einer Spekulationsblase auf dem Rohstoffmarkt gibt es gute Gründe für die Annahme, daß die steil angestiegenen Preise für Öl, Industriemetalle und nicht zuletzt Uran sowie die Preise für Grundnahrungsmittel dem altbewährten Gesetz von (zu geringem) Angebot und (zu hoher) Nachfrage vor allem seitens rapide wachsender Volkswirtschaften wie China und Indien geschuldet sind. Dieses Riesenproblem können weder vollkommen freie Märkte noch staatliche Eingriffe lösen. Bleibt nur die Hoffnung, daß die Verbraucher am Ende doch rationale Entscheidungen treffen, wenn sie mit Furcht und Raffgier auf die Krise reagieren.

 

Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt Neuere europäische Geschichte an der University of San Francisco. In der JF 21/08 schrieb er über die aktuelle Finanzkrise als ein Zeichen des Abstiegs der "einzigen Weltmacht".

Foto: Ausfahrtstraße in Orlando/Florida: Voriges Jahr überschritt der US-Benzinpreis die Drei-Dollar-Marke, in Kalifornien sind es schon fünf Dollar

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