© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/08 25. Juli / 01. August 2008

Nach mir die Bilderflut
Jan Kounens Film "39,90 - Neununddreißigneunzig" wirbt gegen falsches Leben
Silke Lührmann

Käuflich ist alles, und Arbeitskraft sowieso. Aber Humankapital ist eben doch human und kein Kapital, und daß P heute für Prekariat oder Praktikum statt für Proletariat steht, ändert nichts daran: In der Informations- und Kommunikationswirtschaft gehören die Produktionsmittel den un- bzw. scheinselbständig Beschäftigten - Verstand, Fachwissen, Phantasie oder, wie es in Selbsthilfebüchern für Möchtegern-Leistungsträger heißt, "Kreativität". Was er damit anstellt, ob er sich vor den Karren des Systems spannt oder ihm die Achse bricht, muß jeder - und jede - früher oder später entscheiden.

Das falsche Leben im falschen: Dort treiben Monster wie Bret Easton Ellis' mörderischer "American Psycho" (1991) ihr Unwesen, darin findet der namenlose Erzähler von Joshua Ferris' "Wir waren unsterblich" (2007) reichlich Stoff für eine spätkapitalistische Sittenparodie. Auch Octave Parango, der Held von Frédéric Beigbeders Roman "Neununddreißigneunzig" (2001), ist ein Produkt - ja, geradezu ein Prototyp, der allerneuesten Mode stets um Nasenlängen voraus - dieser durch und durch entfremdeten Kunstwelt, in der nichts ohne Markennamen, Preisschild und Strichcode in Umlauf kommt.

Trend-Drogen wie Kokain und Ecstasy tragen ein übriges dazu bei, daß der bei einer großen Agentur beschäftigte Werbeprofi jede Bodenhaftung verliert, Lebenskrisen nur noch als Filmrisse wahrnimmt. Dabei entsteht das Panorama einer Macho-Gesellschaft, in der Frauen selbstverständlich Objekte sind - der Begierde wie der Verachtung -, bisweilen aber auch Botinnen des Wirklichkeitsschocks: Dazu zählt der Schwangerschaftstest, bei dem gleich das ganze Männergeschlecht erbärmlich durchfällt; das Callgirl, dem die kleine Tochter ein Minimum an Verantwortungsbewußtsein abringt; oder gar die müde Hausfrau, die dem Konzernchef einer bekannten französischen Joghurtmarke namens Madone als ideale Käuferin vorschwebt. (Auf die obligatorische Floskel über die rein zufälligen Ähnlichkeiten mit einer real existierenden französischen Joghurtmarke sei an dieser Stelle verzichtet.)

Jan Kounens Verfilmung mit Jean Dujardin in der Hauptrolle bedient sich einer exaltierten, anspielungsreichen Bildsprache, einer permanenten Reizüberflutung, deren Hochglanzästhetik nicht nur der Regisseur und bekennende "Techno-Freak", sondern auch ein Publikum aus Normalverbrauchern von Kind an beherrscht. Schließlich wird der durchschnittliche Mitteleuropäer mit 350.000 Werbebotschaften bombardiert, bevor er überhaupt volljährig ist.

Bei soviel Verblendung bleibt nur noch, Propaganda gegen Propaganda zu setzen: Ausbeutung, Massentierhaltung, Fließbandproduktion - die Klischees einer alternativen Bilderflut, wie man sie auch aus Aufklärungsstreifen wie Morgan Spurlocks "Super Size Me" (2004) oder Richard Linklaters "Fast Food Nation" (2006) kennt, der Blick in die Abgründe hinter den Schaufenstern des globalen Einkaufsparadieses. Die Handlung um einen neuen Werbespot für Madone gipfelt in einer Anti-Reklame, die der - durch Liebe oder was ein Werbetexter dafür hält, nicht etwa durch Einsicht - geläuterte Octave in nächtlicher Guerilla-Aktion dreht.

Ob der Markt diesen Tabubruch letztlich als geniale Verkaufsstrategie vereinnahmen wird, zeigt der Film nicht mehr - man mag es, ob aus Zynismus oder Resignation, jedenfalls vermuten. Die "Möglichkeit einer Insel", wie sie bereits Michel Houellebecq, Beigbeders Landsmann, Freund und Leidensgenosse am Zustand der Welt, auf- und wieder verwarf, erweist sich auch hier als eine vorgegaukelte, die doch nur auf einer überdimensionierten Werbetafel stattfindet, gesponsert von einem Erdöl-Multi.

Immerhin: Autor Beigbeder kostete der Medienrummel um sein Anti-Reklame-Buch den sicherlich gutbezahlten Job als Texter bei einer großen amerikanischen Werbeagentur. Später wurde seine Internetseite unter der unzweideutigen Bezeichnung www.jeboycottedanone.com vom Pariser Gerichtshof verboten. Indes wird die Radikalität seines Anliegens als gefällige Satire bemäntelt, die keine Zielgruppe allzusehr verschrecken dürfte. Die einen können sich über das irrsinnig coole Leben amüsieren, das sie selber führen, die anderen über den Irrwitz echauffieren, den ihre Mitmenschen für cool befinden.

So zitiert das Pressematerial zum Film zwar die Position von Globalisierungsgegnern, Verbraucher- und Naturschützern, die Werbung als höchst schädliches Umweltgift für sämtliche Welten von der Ersten bis zur Dritten begreifen. Zur Beschwichtigung bietet es Statistiken auf, denen zufolge fast die Hälfte der Bundesbürger sie für hilfreich hält - um so schlimmer, könnte man meinen -, um abschließend auf dem harmlosen Niveau eines Gemeinschaftskundeaufsatzes zu fragen: "Wieviel Konsum braucht der Mensch, um glücklich zu sein?"

Wieviel Konsum kann sich die Menschheit noch leisten, ehe sie sich und den Planeten endgültig ins Unglück stürzt? Doch Beigbeder selber wiegelt schon in der Romanvorlage ab und beruft sich auf Rainer Werner Fassbinder: "Man muß zumindest beschreiben, was man nicht verändern kann."

Ein Zehntel des globalen Werbebudgets wäre genug, um den Welthunger zu halbieren, heißt es im Abspann. Gewiß, aber ließe sich eine ähnliche Rechnung nicht auch für die Film- und gesamte Unterhaltungsindustrie aufmachen?

Foto: Octave Parango (Jean Dujardin) bekommt, was er will: Panorama einer Macho-Gesellschaft

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