© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/08 15. August 2008

Die Feinde des Regenbogens
Poet von Rang und moralische Instanz: Zum 75. Geburtstag des Dichters Reiner Kunze
Ulrich Schacht

Daß Reiner Kunze am kommenden Sonnabend seinen 75. Geburtstag feiert, mag man mit Überraschung zur Kenntnis nehmen. Tatsächlich ist es ein Anlaß zur Freude und Dankbarkeit, denn mit Reiner Kunze hat das wiedervereinigte Deutschland einen Dichter zu feiern, der genau jene intellektuelle moralische Instanz verkörpert, deren Notwendigkeit die einen bestreiten und von der die anderen glauben, sie ausgerechnet in dem sinistren Nörgler Günter Grass gefunden zu haben.

Reiner Kunze dagegen entspricht jenem Typus von Intellektuellen, den Frankreich mit Albert Camus gekannt hat, Rußland mit Alexander Solschenizyn und Joseph Brodsky oder die Tschechen mit Vaclav Havel kennen: Künstler und Intellektuelle, die niemals Partei des Zeitgeistes waren, schon gar nicht eines linkskonform grundierten, sondern Menschen, die die geistige und politische Freiheit des Menschen gegen seine fortschrittlichen oder nationalistischen Zwangsbeglücker unnachgiebig verteidigt haben und verteidigen.

Wer Kunzes Lebensweg, der im deutschen Schicksalsjahr 1933 in Oelsnitz im Erzgebirge in einer armen Bergarbeiterfamilie begann, spätestens seit den frühen siebziger Jahren verfolgte, zumal als Bewohner der zweiten deutschen Diktatur, der konnte das Immer-mutiger-Werden eines Dichters bewundern und sich daran stärken, der an den Kämpfen mit der deutschen kommunistischen Diktatur und ihren späten westdeutschen Sympathisanten und Schönrednern, denen er sich zunehmend aussetzte, zugleich reifte: intellektuell ebenso wie in seiner poetischen Kraft.

Denn auch Reiner Kunze, der Arbeitersohn, fing einmal an als Anhänger der SED, der "Partei der Arbeiterklasse", wie sich die stalinistische deutsche Machtorganisation zur totalitären Beherrschung von 17 Millionen Menschen zwischen Elbe und Oder zwischen 1946 und 1989 demagogisch nannte, weil er für einen kurzen geschichtlichen Moment glaubte, ihr dankbar sein zu müssen für den Aufstieg aus bedrückenden Verhältnissen. Kunze, so zeigt sich in seinen frühesten Texten, war auf eine naive und, wie er seit langem wohl selbst sagen würde, genau deshalb gefährliche Weise politisch gläubig.

Allerdings pflegte er diesen Glauben nicht bis zur dogmatischen Besinnungslosigkeit oder als korruptiven Dauer-Zynismus, wie es viele Schriftsteller in der SED-Diktatur taten - zuletzt nur noch als dürftige Brecht-Kopien, aber nibelungentreu bis zum Untergang des geist- und menschentötenden Honecker-und-Mielke-Staates.

Stalins 1956 von Chruscht­schow öffentlich zugegebene Verbrechen und Prags befreiender politischer Frühling 1968 sowie dessen gewaltsames Ende waren die irreparablen Bruchstellen im Bewußtsein des Dichters, die fortan, in Wort und Tat, sein Verhältnis zur politischen Umwelt prägten. Dafür nahm er, bis zu seinem erzwungenen Verlassen des SED-Staats im April 1977, brutale Repressionen gegen sich und seine Familie in Kauf und ließ sich auch nicht von raffinierten Versprechungen verführen.

Kunzes Glück im langsam anwachsenden gesellschaftlichen Unglück, neben seiner Charakterstärke, war das frühe Eintauchen in die phantastische Poesie der Tschechen und Slowaken und die legendäre Liebe zwischen ihm und seiner tschechischen Frau Elisabeth, die geradezu konstitutiv für die nun regelrecht befreite Poesie des Dichters wurden. Böhmen wurde ihm in einem übertragenen wie ganz konkreten Sinne Programm, und das frühe Gedicht "Horizont", das dem mährischen Dichter Jan Skácel gewidmet ist, beginnt deshalb kaum zufällig mit den Versen: "Ich bin des regenbogens angeklagt/ und die großen farben Schwarz und Weiß/ sitzen in vielen häusern/ meiner stadt".

In diesen vier frühen Versen Kunzes, die sich als bitter-ironische Metapher geben, steckt tatsächlich eine kompromißlose Kampfansage gegen alle wirklichen Feinde des Regenbogens, der nichts anderes als geistige Pluralität symbolisiert.

Daß dieser Kampf mit dem Untergang der SED-Diktatur nicht zu Ende ist, kann man übrigens nicht nur an diversen Interviews und Tagebuchnotizen Kunzes der letzten Jahre ablesen (besonders im Zusammenhang mit der von national- wie linkssozialistischem Ungeist tiefeninspirierten Barbarei namens "Rechtschreibreform", die der Dichter einmal mit den Kulturverbrechen der Taliban gleichsetzt), sondern in einem radikalen Sinne auch an seinem neuesten Gedichtband "lindennacht", der - wie alle anderen zuvor - 2007 bei S. Fischer erschien.

Neben der ungebrochenen Fortschreibung seiner in der deutschen Gegenwartspoesie einmaligen Liebesdichtung und der von fernöstlicher Weisheit inspirierten Naturlyrik finden sich hier, wie auch schon im Band "ein tag auf dieser erde" (1998), schärfsten Verse gegen die Macht der Political Correctness, wie sie in der 68er-geprägten Bundesrepublik von heute mit totalitärem Eifer und diktatorischen Gelüsten grassiert und vorangetrieben wird, nicht zuletzt mit Hilfe der von ihr beherrschten Massenmedien: "Millionenzüngig leckt/ die lippen sich/ der rufmörder".

Und in seinem Gedicht "Nachricht von der Menschheit" nimmt er es sogar mit all jenen ideologischen Zynikern, Gedankenlosen oder Opportunisten auf, die glauben, eine Rangordnung zwischen den Opfer-Hektatomben der beiden totalitären Massenvernichtungssysteme des 20. Jahrhunderts festlegen zu müssen: "Ein unermeßliches leid/ verwies/ ein unermeßliches leid/ auf die tiefere stelle am mast/ und sprach:/ Meiner trauer/ ist keine trauer ebenbürtig// Da faltete das/ auf die tiefere stelle verwiesene/ unermeßliche leid/ seine trauer zusammen/ und ging/ in die einsamkeit der toten".

Reiner Kunze bringt damit nichts anderes als eine für eine wirklich humane Gesellschaft höchst notwendige Erkenntnis in falsche Gewißheit erschütternde Verse, die sein lebenslanges Vorbild Albert Camus schon 1949 in seinem Tagebuch notierte und gleichzeitig, zum Haß aller ideologischen Sartres seiner Zeit und dieser Welt, auch praktisch werden ließ: "Heute sind die Dinge klargestellt, und es muß als konzentrationslagerartig dargestellt werden, was konzentrationslagerartig ist, sogar der Sozialismus ..."

Daß dieses Wissen ausgerechnet im wiedervereinigten Deutschland am heftigsten verdrängt, ja bekämpft wird, läßt die poetischen und politischen Sätze des Dichters Reiner Kunze nur um so überzeugender werden.

 

Ulrich Schacht, Jahrgang 1951, stand wie Reiner Kunze in Opposition zum DDR-System. 1976 in die Bundesrepublik entlassen, lebt er heute als Schriftsteller in Schweden.

Foto: Reiner Kunze in seinem Haus in Obernzell (Niederbayern), aufgenommen am 24. Juli 2008: Kompromißlose Kampfansage

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