© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/08 22. August 2008

Streit um Zahlen
Geschichtspolitik: Berliner Mauermuseum legt neue Erkenntnisse über die Opfer an der innerdeutschen Grenze vor / 1.303 Fälle registriert
Ekkehard Schultz

Nach neuen Angaben des Berliner Mauermuseums am Checkpoint Charlie wurden bis 1989 an Mauer und innerdeutscher Grenze 1.303 Menschen getötet. In dieser - weiterhin allerdings nur vorläufigen - Zahl sind auch Todesopfer bei Fluchtversuchen über die Ostsee, Todesopfer an außerdeutschen Grenzen (sofern es sich um Deutsche handelte), getötete DDR-Soldaten und sowjetische Fahnenflüchtige sowie Todesfälle infolge von Flugzeugabschüssen enthalten. Hinzu kommen Personen, denen die Flucht gelungen war, die jedoch daraufhin von Stasi- oder KGB-Agenten zurückgebracht und anschließend getötet wurden. Ebenfalls berücksichtigt werden Personen, die als Angehörige der Grenztruppen Selbstmord begingen.

Im Vergleich zu den Angaben aus dem vergangenen Jahr hat sich damit die Zahl der registrierten Todesopfer um 58 erhöht. Besonders deutlich ist der Anstieg weiterer Fälle an den Sektorengrenzen in Berlin bis zum Mauerbau. Hier stieg die Gesamtzahl von 49 auf nunmehr 67 Opfer. Dagegen konnten aber auch einige Registrierungen gelöscht werden, bei denen sich inzwischen herausgestellt hat, daß die Betroffenen zwar schwer verletzt wurden, aber überlebt hatten.

Bereits seit 1948 forschte der spätere Gründer des Mauermuseums, Rainer Hildebrandt, nach verschollenen politischen Gefangenen aus der SBZ und späteren DDR. Nach dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 legte Hildebrandt über die Opfer, die dort sowie an der innerdeutschen Grenze ums Leben kamen, ein Archiv an. Diese Angaben waren freilich immer lückenhaft. Erst seit dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime können die einzelnen Schicksale Schritt für Schritt recherchiert werden. Seither wird jährlich über den aktuellen Stand der Nachforschungen informiert.

Die Ermittlung der genauen Zahl der Todesopfer an innerdeutscher Grenze und Mauer durch das privat finanzierte Mauermuseum am ehemaligen alliierten Grenzübergang Checkpoint Charlie steht in gewisser Konkurrenz zu den Recherchen der Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße und dem Zentrum für Zeitgeschichtliche Forschung in Potsdam (ZZF). Diese beiden Einrichtungen ermitteln seit Oktober 2005 gemeinsam im Auftrag der Bundesregierung die Zahl der Todesopfer an der Berliner Mauer zwischen August 1961 und November 1989. Nach ihren jüngsten Angaben konnten 136 Todesfälle durch Unterlagen konkret dokumentiert werden. Bis zum Abschluß des Projekts am Jahresende sollen noch 16 ungeklärte Fälle geprüft werden. Die aktuelle Liste des Mauermuseums verzeichnet in diesem Zeitraum dagegen 222 Todesfälle an der Mauer. Die inzwischen aufgelöste Berliner Staatsanwaltschaft II hatte im Jahr 2000 die Zahl der nachweislich durch einen Gewaltakt an der Berliner Mauer umgekommenen Opfer mit 86 angegeben. Allerdings registrierte sie in der Regel nur die Todesfäll, die auf Schußwaffengebrauch zurückzuführen waren.

Die Hauptursache für diese deutlichen Unterschiede sieht die heutige Chefin des Mauermuseums und Witwe von Rainer Hildebrandt, Alexandra Hildebrandt, in erster Linie in der mangelhaften Zusammenarbeit zwischen den Behörden und dem privaten Museum. Hier sei die private Einrichtung deutlich benachteiligt, die sich als "Bürgerinitiative" verstehe und deren zentrale Aufgabe "in der Dokumentation und nicht in der Interpretation" liege. "Die Geschichte" dürfe "nicht von der Politik bestimmt werden", sagte Hildebrandt in der vergangenen Woche auf einer Pressekonferenz. Umgekehrt hatten die Leitung die Gedenkstätte an der Bernauer Straße und das ZZF dem Mauermuseum bereits 2006 vorgeworfen, auf ihren Listen viele Fälle aufzuführen, die ungeklärt oder inzwischen sogar bereits widerlegt worden seien bzw. nicht nachweislich mit dem Grenzregime im Zusammenhang stünden.

Bereits vor drei Jahren gab es in Berlin Streit um die Form des Gedenkens an die Mauertoten. Der damalige Kultursenator Thomas Flierl (PDS) bekämpfte das von Hildebrandt auf zwei Grundstücken auf dem ehemaligen Grenzstreifen am Checkpoint Charlie errichtete Mauermahnmal mit allen Mitteln und erreichte schließlich die Räumung der 1.067 Holzkreuze (JF 28/05). Zudem wurde Hildebrandt von dem Ministerium verklagt, als sie mehrere große Fototafeln, die an der Fassade des Finanzministeriums an den Volksaufstand am 17. Juni erinnerten, länger als vorher vereinbart hängen ließ.

Foto: Das 2005 abgeräumte Mauermahnmal: Auseinandersetzung um die richtige Form des Erinnerns

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