© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/08 22. August 2008

Die Stunde der Wahrheit
Georgien-Konflikt: Das wiedererstarkte Rußland wird auch künftig seine legitimen Interessen verteidigen - selbst gegen den Willen des Westens
Wolfgang Seiffert

Der Aggressor ist bestraft und hat bedeutende Verluste erlitten, seine Streitkräfte sind desorganisiert. Das Ziel ist erreicht, die Sicherheit von Zivilisten und Blauhelmsoldaten gewährleistet." Mit diesen Worten brachte der russische Präsident Dmitri Medwedew beim Besuch des französischen Amtskollegen Nicolas Sarkozy die Moskauer Position im Georgien-Konflikt auf den Punkt.

Auch der Sechs-Punkte-Friedensplan, den Medwedew zuvor formuliert hatte und der nach Vermittlung des EU-Ratspräsidenten von Georgien angenommen wurde, läßt Rußland als Sieger dastehen. Denn die georgischen Streitkräfte müssen sich "auf ihre üblichen Stationierungsorte zurückziehen".

Die russischen Streitkräfte sollen sich zwar ebenfalls auf die Linien vor Beginn der Feindseligkeiten in Südossetien zurückziehen. Doch "in Erwartung eines internationalen Mechanismus werden die russischen Friedenstruppen vorläufig zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen ergreifen". Auch Punkt 6, der die "Eröffnung internationaler Diskussionen über die Modalitäten der Sicherheit und Stabilität in Abchasien und Südossetien" vorsieht, läßt sich ebenfalls im Moskauer Sinne interpretieren. Einen "EU-Friedensplan" hat es hingegen nicht gegeben und konnte es nicht geben, weil dazu die Einstimmigkeit der 27 Staaten erforderlich wäre. "Es ist lächerlich, von einer gemeinsamen Politik der Union gegenüber Moskau zu sprechen", erklärte Lech Kaczyński in der Rzeczpospolita.

Der polnische Präsident, der mit seinen Amtskollegen aus den baltischen Staaten und der Ukraine eine "Solidaritätsreise" nach Tiflis unternahm, will sogar einen neuen "Ostblock" initiieren, um unter Führung Warschaus die Rußland-Politik der EU in seinem Sinne zu beeinflussen. Denn Sarkozy habe diese Länder nicht in seine Vermittlungen einbezogen. Dabei bedürfte selbst die Entsendung von EU-Beobachtern eines Uno-Mandats, wie Frankreichs Außenminister Bernard Kouchner zu Recht hervorhob. Doch das hängt von der Zustimmung der Vetomacht Rußland ab.

Auch die von Angela Merkel bei ihrem Besuch in Georgien gemachte Aussage: "Georgien wird, wenn es das will, Mitglied der Nato werden", sollte nicht ohne die Ergänzung der Kanzlerin zitiert werden, zugleich gelte weiterhin, was auf dem Nato-Gipfel in Bukarest vereinbart worden sei. Im April waren Georgien, Mazedonien und die Ukraine in den Membership Action Plan (MAP) aufgenommen worden - aber ohne ein konkretes Beitrittsdatum zu nennen.

Die größte Fehleinschätzung traf allerdings der georgische Präsident Micheil Saakaschwili, als er glaubte, durch einen militärischen Angriff auf Südossetien die aufgrund eines aus dem Jahre 1995 stammenden Stationierungsabkommens dort befindlichen russischen Blauhelmsoldaten und auch sonst alles Russische vertreiben zu können. Seine größte Illusion war die Hoffnung, die USA und andere Nato-Staaten würden Georgien mit eigenen Truppen "Hilfe leisten".

Unabhängig vom Anlaß hat die Reaktion Rußlands im Georgien-Konflikt einen tiefergehenden Hintergrund: Das völkerrechtswidrige Verhalten der USA im Kosovo-Konflikt konnte nicht ohne Antwort bleiben. Vor allem aber soll auch Europa eine Ahnung davon bekommen, was es für Folgen haben kann, wenn der Westen daran festhält, auch der Ukraine eine Perspektive als Nato-Mitglied zu suggerieren. Selbst der Zeitpunkt der Militäraktion - wenige Monate vor der Wahl des neuen US-Präsidenten - paßt dank Saakaschwilis Provokation ins russische Konzept. Von Georg W. Bush weiß man, daß er wegen seiner Orientierung auf die Verhinderung einer Atommacht Iran das Verhältnis zu Rußland nicht grundsätzlich in Frage stellen wird.

Barack Obama hingegen hält man in Moskau für einen Feind Rußlands, der sich finanziell auf den US-Milliardär George Soros und ideologisch auf die Ratschläge des polnischstämmigen US-Geostrategen Zbigniew Brzeziński stütze. Gleichwohl geht man in Moskau davon aus, daß John McCain das Rennen macht. Dessen dezidiert antirussischer Kurs bringe eine weitere Verschärfung. Warum also sollte man bis nach den Wahlen in den USA warten?

Dies alles sollte Anlaß sein, die Dinge endlich so zu sehen, wie sie wirklich sind: Rußland ist nach dem Ende der Sowjetunion und den chaotischen neunziger Jahren wiederauferstanden als ein Land, das wirtschaftlich potent und militärisch handlungsfähig seine legitimen Interessen in den Grenzen des Völkerrechts entschieden wahrnimmt.

Nur wenn der Westen dieser Realität entsprechend seine Beziehungen zu Moskau gestaltet, kann es in Europa auf Dauer Frieden und Sicherheit geben. "Es gibt kein einziges entscheidendes Problem in der Weltpolitik und in der Weltökonomie, das ohne Rußland zu lösen wäre", erklärte Gerhard Schröder im Spiegel. Europa könne nur dann eine wirkliche Rolle im Kontext zwischen Amerika und Asien spielen, wenn es enge Beziehungen zu Moskau pflege. Denn "Rußland hat eine asiatische Alternative, Europa hat sie nicht", so der Altkanzler. Und das gilt nicht nur für Rohstoff- und Energiefragen.

 

Prof. Dr. Wolfgang Seiffert war bis 1994 Direktor des Instituts für osteuropäisches Recht der Universität Kiel und lehrte danach am Zentrum für deutsches Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau.

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