© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/08 22. August 2008

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Pragmatismus
Karl Heinzen

Lediglich 24 Prozent der Deutschen wissen, so hat eine im Auftrag des Geschichtsmagazins P.M. History durchgeführte Forsa-Umfrage ergeben, daß die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 vollzogen wurde. In ihrer Mehrheit nehmen sie an, daß sie sich bereits am 9. November 1989, dem Tag der Maueröffnung, zugetragen habe. Diese zur Bewältigung des immer komplizierter werdenden Lebensalltags sowieso völlig unerhebliche Bildungslücke sollte jedoch nicht die Freude über die allen Unkenrufen zum Trotz weiterhin durchaus soliden historischen Grundkenntnisse der Menschen in unserem Land trüben. Obwohl die Einheit von den meisten gar nicht als etwas Besonderes erlebt wurde, hat sich das Wissen um die Teilung von einst nicht völlig verflüchtigt. Da zwei Drittel der Deutschen von einer immer noch vorhandenen "Mauer in den Köpfen" sprechen, darf sogar vermutet werden, daß so mancher von ihnen schon einmal von einer realen Mauer gehört hat, die mitten durch Berlin ging.

Will man der Forsa-Umfrage Glauben schenken, so scheint die anfängliche Sorge unserer Verbündeten und Partner, ihnen könnte die Lage in Mitteleuropa entgleiten, im Kern unbegründet gewesen zu sein. So geben die Befragten mehrheitlich an, daß sie sich damals zwar schon irgendwie gefreut hätten, zugleich aber von tiefer Skepsis getragen gewesen wären. Eine Atmosphäre des nationalen Aufbruchs mögen somit vielleicht die Fernsehbilder in jenen Tagen suggeriert haben. Die wahre Stimmung war aber offenbar eine andere.

Überdies läßt die Umfrage erkennen, daß sich die bereits 1989 gehegten Befürchtungen im wesentlichen bewahrheitet haben. Wende und Wiedervereinigung brachten nicht bloß Reisefreiheit für die Bürger der einstigen DDR und die Zusammenführung von Familien. Sie verursachten in der Wahrnehmung der Bevölkerung auch eine stärkere finanzielle Belastung und einen Anstieg der Arbeitslosigkeit.

Mit ihrer pragmatischen Bewältigung der Einheit haben die Deutschen ihre zivilisatorische Reife unter Beweis gestellt. Sie akzeptierten die Wiedervereinigung, ohne sich von ihr übermäßig begeistern zu lassen. Die Bundesrepublik wurde größer, ohne zu wachsen. Frei von ideologischen Verklärungen haben sich die Menschen den Blick dafür bewahrt, daß zwischen Ost und West weiterhin das Trennende überwiegt. Unsere Gesellschaft ist damit um einen Gegensatz reicher geworden. Er stellt ihren Zusammenhalt aber genausowenig in Frage wie jener zwischen Alt und Jung oder der so oft beschworene zwischen Reich und Arm.

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