© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/08 22. August 2008

Gemäß dem alliierten Auftrag
Vor sechzig Jahren tagte der Herrenchiemseer Konvent und schuf das bis heute gültige "Provisorium" des Grundgesetzes
Heino Bosselmann

Auf der Herreninsel im Chiemsee suchen die Touristen eher die verklärte Monarchie Ludwigs II. als die Republik, deren Grundlage 1948 Juristen erarbeiteten, die als "Väter der Verfassung" gelten. In ihrer Mehrzahl waren sie ebenso kompetente Fachleute wie politische Wendehälse. Der von der SPD hoch verehrte Carlo Schmid hatte etwa dem Bund nationalsozialistischer Juristen angehört, sein badischer Kollege Theodor Maunz war engagierter Jurist im Dritten Reich.

Aber auch der Mitbegründer der CSU Anton Pfeifer, der Gewerkschafter und SPD-Politiker Otto Suhr, der christliche Konservative Adolf Südermann und der NS-verfolgte konservativ-liberale Jurist jüdischer Abstammung Hans Nawinsky arbeiteten maßgebend am Entwurf des Grundgesetzes mit.

Politisch beeinflußte die Herrenchiemseer Klausur der Kalte Krieg, der mit der Berlin-Blockade augenfällig war. Für Carl Schmitts Begriff des Politischen im Sinne der Freund/Feind-Konstellation ist die Gründung der Bundesrepublik aus westalliiertem Kalkül heraus ein Standardbeispiel. Da den drei Westmächten eine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion, die im Osten zunehmend Tatsachen schuf, künftig unmöglich erschien, präferierten sie die Bildung eines westdeutschen Separatstaates. Nach der Londoner Sechsmächtekonferenz (JF 27/08) übergaben die drei Militärgouverneure die "Frankfurter Dokumente" an die Ministerpräsidenten der westlichen Besatzungszonen und ermächtigten sie mit dringlicher Befehlsdiktion zur Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung bis zum 1. September. Sie verlangten rigoros eine Verfassung föderalistischen Zuschnitts mit "angemessener Zentralinstanz" und forderten "Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten".

Die daraufhin im Koblenzer Hotel "Rittersturz" tagenden elf Ministerpräsidenten rieben sich an der angestrebten Gründung eines Weststaats, weil sie eine Beschleunigung der deutschen Spaltung befürchteten. Statt einer Verfassung strebten sie ein Provisorium mit dem Titel "Grundgesetz" an, das nicht von einer verfassungsgebenden Versammlung, sondern von einem Parlamentarischen Rat verabschiedet werden sollte, der aus Politikern der Länderparlamente gewählt wurde. Im Jagdschloß Niederwald bei Rüdesheim beschlossen die Länderchefs schließlich die Einberufung des Verfassungskonvents, der auf Vorschlag des bayerischen Regierungschefs Hans Erhard auf Herrenchiemsee tagen sollte. Die drei Militärgouverneure reagierten verstimmt und telegrafierten, die Ministerpräsidenten seien nicht befugt, revidierend über die Beschlüsse der Alliierten zu verhandeln. Auf einem weiteren Treffen im Jagdschloß Niederwald plädierte Ernst Reuter (SPD) aus Berlin engagiert für Weststaat und Teilung und sicherte so die Zustimmung der Besatzer. Einen Volksentscheid lehnten alle maßgeblichen Politiker ab. Widerwillig akzeptierten die Militärgouverneure den Begriff "Grundgesetz", und die Juristen bezogen ihre Quartiere im abgelegenen Schloßidyll.

Ohne die alliierte Regie der Siegermächte ist Herrenchiemsee nicht zu denken. Es handelt sich dabei um eine Auftragsarbeit, die die Westmächte deutschen Gewährsleuten übertrugen, um abzusichern, daß Westdeutschland in ihre strategischen Interessen eingebunden werden konnte. Der Konvent folgte beflissen dieser Intention, während die Deutschen, denen dieses Grundgesetz schließlich galt, nicht gefragt wurden und überhaupt eher mit Überleben und Wiederaufbau beschäftigt waren. Was als aufkeimendes demokratisches Gewissen der entstehenden Bundesrepublik angesehen werden soll, entstand somit weniger aus deutschen Bedürfnissen als aus artigem Opportunismus gegenüber den Kriegssiegern und ihren politischen Interessen.

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