© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/08 22. August 2008

Hitler-Stalin-Pakt 23. August 1939
Der lachende Dritte
von Klaus Hornung

Nach den Regeln der politisch korrekten Volkspädagogik entscheiden über zentrale zeitgeschichtliche Wahrheiten - zumal in Deutschland - heute vor allem die Kommandohöhen der Medien und der Politik. Zu diesen "Wahrheiten" gehört mit an vorderster Stelle die These, Hitler und das nationalsozialistische Deutschland hätten am 22. Juni 1941 die "friedliebende", allein am "Aufbau des Sozialismus" interessierte Sowjetunion Stalins "überfallen".

Dieses geschichtspolitische Diktum steht freilich schon seit über zwanzig Jahren auf immer wackligeren Beinen, und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist dann auch in Rußland eine umfangreiche Debatte zu dem Schicksalsdatum des 22. Juni 1941 in Gang gekommen, gleichsam ein russischer Historikerstreit. Der Historiker Wladimir Doroschenko von der Universität Nowosibirsk wies 1995 Stalins Kalkül nach, daß dessen Pakt mit Hitler am 23. August 1939 einen deutschen Angriff auf Polen und dann auch den "unvermeidlichen" Kriegseintritt Großbritanniens und Frankreichs auslösen werde. Dieser sollte zu einem "Erschöpfungskrieg" zwischen Deutschland und den Westmächten führen, an dessen Ende das Eingreifen der Sowjetunion und die Sowjetisierung Europas stehen sollten. Jüngst hat Bogdan Musial (JF 17/08) aufgrund umfangreicher neuer Archivfunde in Moskau nachgewiesen, daß die Sowjetunion seit dem Ende der zwanziger Jahre "zum ideologisch bedingten Angriffskrieg gegen den Westen massiv aufrüstete". Tatsächlich liegt kein Thema der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts durch die Arbeit einer "Internationale der Revisionisten" heute so offen und dokumentarisch belegt da wie dieses.

Die revolutionäre und machtpolitische Langzeitperspektive, die im 22. Juni 1941 gipfelte, läßt sich als die Geschichte der Offensiven beider totalitärer Parteistaaten skizzieren. Man kann bei Lenin anknüpfen, der bereits 1920, also in der Frühzeit der bolschewistischen Herrschaft, die Ausnutzung der "Widersprüche und Gegensätze zwischen zwei kapitalistischen Staatengruppen" durch Sowjetrußland empfahl, die man "aufeinanderhetzen" solle, "denn wenn zwei Diebe in Streit geraten, ist der Ehrliche der lachende Dritte". Der Führer der bolschewistischen Revolution meinte damit die beiden Gruppierungen der Sieger und der Besiegten des Ersten Weltkrieges, Großbritannien, Frankreich, die USA auf der einen, Deutschland, Italien und Japan auf der anderen Seite. Stalin, Lenins Nachfolger seit 1924, baute diesen nur auf den ersten Blick populistischen Ratschlag zu dem Axiom der "Unvermeidbarkeit" von Kriegen zwischen den "kapitalistisch-imperialistischen" Staaten aus, die die sowjetische Politik befördern solle, um die Kontrahenten zu schwächen und schließlich als letzte aufzutreten und ihr entscheidendes Gewicht in die Waagschale zu werfen, wie Stalin schon 1925 im Zentralkomitee der KPdSU verkündet hatte. Auch das entsprach Lenins Konzept - schon während des Weltkrieges gehegt - der Überführung des Staatenkrieges in den Bürgerkrieg, in die kommunistische (Welt-)Revolution.

Stalin hatte erkannt, daß die erste Phase des "revolutionären Weltprozesses" 1923 zum Stillstand gekommen war. Seine Leitlinie für die nächste Zeit wurde daher der "Aufbau des Sozialismus in einem Land", eine Parole, die defensiv klingen sollte, die jedoch die Wiederaufnahme der revolutionären Zielsetzung nicht aus den Augen verlor, sobald sich die entsprechenden Umstände einstellten. Aufbau des Sozialismus meinte für Stalin vor allem die forcierte Industrialisierung des zurückgebliebenen Landes und Hand in Hand damit seine militärische Stärkung.

Der Ausbruch der Weltwirtschaftskrise im Herbst 1929 mochte Stalin als eine Art Gottesgeschenk erscheinen, das die Fortsetzung der revolutionären Offensive ermöglichen sollte. Eben jetzt, im Februar 1931, hielt der sowjetische "Woschd" (Führer) eine entsprechend aggressive Rede, in der er das "wirklich bolschewistische Tempo" des industriellen und militärischen Aufbaus beschwor, der in zehn Jahren den Rückstand gegenüber den fortgeschrittenen Ländern aufholen sollte, um dann "gegen die Kapitalisten die Sache der Weltrevolution zu entfachen" mit der Sowjetunion als "Vaterland, Vorhut und Stoßbrigade" des Weltproletariats. Stalins revolutionär-marxistische und in der Wolle gefärbte militaristische Denkweise war unverkennbar.

Der kommunistische Diktator sah die Sowjet­union als Nutznießer der kapitalistischen Krise, wie dies auch für die Nationalsozialisten galt. Hier baute sich die große Chance auf, Lenins Spaltungsstrategie gegen das "kapitalistischen" Lager in absehbarer Zeit realisieren zu können, Hitlers Radikal-Revisionismus gegen den Staus quo und die Sieger von 1918/19 in Stellung zu bringen und aus diesem Konflikt schließlich als "lachender Dritter" den maximalen Nutzen für die "Sache der Weltrevolution" zu ziehen.

Dies war der Grund, weshalb Stalin Hitlers Machtaufstieg mit Wohlwollen betrachtete und die Alternative einer Politik der "Arbeitereinheitsfront" im Bündnis mit der deutschen SPD gegen den "Hitler-Faschismus" nicht ernsthaft in Erwägung zog. Hitlers offensive Politik erschien Stalin wie gerufen, als "Eisbrecher" (Wiktor Suworow) des Status quo von 1918/19 zu agieren, um früher oder später sein Axiom der Unvermeidbarkeit von Kriegen zwischen den beiden Fraktionen des Welt-Kapitalismus und damit auch des zweiten imperialistischen Krieges zu bestätigen. Um so alarmierter war er, als sich durch das Viermächteabkommen von München am 29. September 1938 die Möglichkeit abzeichnete, daß sich die vier stärksten europäischen Mächte in einer Einheitsfront gegen die Sowjet­union einigen könnten - aus Stalins Sicht eine Gefahr, gegen die er nun um so dringender Lenins Spaltungskonzept ins Spiel zu bringen gedachte.

Hier kam Stalin der zweite Glücksfall zu Hilfe. Hitler gab den Viermächteakkord von München ohne Not preis und fixierte sich, strategisch engstirnig, gemäß der Liste seiner Anti-Versailles-Revisionspolitik sogleich auf Polen. Zu einer auch militärischen Lösung war er entschlossen, bedurfte dafür jedoch der Rückendeckung der Sowjetunion, um die beiden Westmächte von einer kriegerischen Intervention abzuhalten.

Die Motivlage der beiden Diktatoren zum Abschluß des Paktes am 23. August 1939 war also durchaus gegensätzlich. Stalin gab damit grünes Licht für Hitlers Angriff auf Polen. Während dieser jedoch fälschlich meinte, die sowjetische Rückendeckung werde eine Intervention Großbritanniens und Frankreichs verhindern, war der Kollege im Kreml überzeugt, daß der deutsch-polnische militärische Konflikt, hatte er einmal begonnen, nicht mehr zu isolieren war, sondern durch die britische und französische Kriegserklärung an Deutschland sich zu jenem umfassenden Konflikt zwischen den beiden Mächtegruppen ausweiten würde, wie er seinem strategischen Kalkül entsprach. Mit Recht konnte er am Abend des 23. August im Kreise seiner Getreuen jubeln "Ich habe Hitler überlistet!", wie Chruschtschow in seinen Memoiren berichtet.

Stalin erwies sich in dem Handel als der überlegene Poker-Spieler. Er hatte an diesem Tag mehrere Ziele zugleich erreicht: Hitler zum Angriff auf Polen provoziert mit dem Ziel, den "zweiten imperialistischen Krieg" auszulösen, das Deutsche Reich durch dessen Angewiesensein auf die sowjetischen Lieferungen von Öl, Getreide und sonstigen Rohstoffen in unverkennbare Abhängigkeit gebracht und die Sowjetunion schließlich in die von Lenin empfohlene Rolle des lachenden Dritten versetzt, der auf die Gelegenheit wartete, als letzter in den Krieg einzugreifen, nachdem die "Imperialisten" sich erschöpft hatten mit dem Endziel der Wiederaufnahme des "revolutionären Weltprozesses", der Sowjetisierung Europas.

Die historische Beurteilung des Paktes vom 23. August 1939 ist sich heute darin einig, daß Hitlers mangelndes Kalkül ihn in die aufgestellte Falle des Kollegen im Kreml laufen ließ. Schon fünfzehn Monate später hat Molotow bei seinem Besuch in Berlin im November 1940 den Preis für Hitlers Fehlkalkül auf den Tisch legen können: die Ausdehnung des sowjetischen Machtbereichs auf ganz Osteuropa zwischen Finnland und dem Schwarzen Meer sowie auf die strategisch wichtigen Meerengen am Bosporus und am dänischen Ostseeausgang - Forderungen, die erste Schritte auf dem Weg zur sowjetrussischen Hegemonie in Europa bedeuteten und Deutschland schon jetzt in die Abhängigkeit von ihr führen mußten.

Es sprach nicht für die weitsichtige strategische Vernunft des deutschen "Führers", wenn er erst jetzt erkannte, daß die Sowjets "eiskalte Erpresser" seien, eine Erkenntnis, die ihn schon im August des Vorjahres vom Abschluß des Paktes mit Stalin hätte abhalten können. Nun stand er vor der Vabanque-Situation, sich möglichst rasch aus der Lage des Erpreßbaren befreien zu müssen.

Hitler-Deutschland befand sich seit dem 3. September 1939 in dieser Situation. Schon im Sommer 1940 hatte Stalin seine Erpressungswerkzeuge vorgezeigt. Als die deutschen Armeen in Frankreich gebunden waren, hatte er "eiskalt" die drei baltischen Staaten sowie Bessarabien und die Nordbukowina annektiert. Im Vollzug des Paktes vom 23. August war die Sowjetunion am 17. September 1939 in Ostpolen einmarschiert. Am 30. November erfolgte der Angriff auf Finnland. Stalin war ein Meister darin, seine Aggressionsspuren zu verwischen. Es konnte keine Rede davon sein, daß die Sowjetunion etwa erst durch Hitlers Angriff am 22. Juni 1941 gegen ihren Willen in den Krieg "hineingezwungen" worden sei, wie die Sowjet-Geschichtsschreibung bis 1990 immer wieder behauptet hatte. Tatsächlich tat der Diktator im Kreml im Verein mit seinem Kollegen in Berlin geradezu planmäßig alles, den Krieg zu entfesseln, in den er bereits durch seinen Angriff auf Polen eintrat. In der Zeit zwischen September 1939 und Sommer 1940 brach Stalin die bestehenden Nichtangriffsverträge mit allen sechs westlichen Nachbarstaaten von Finnland bis Rumänien.

Zugleich bereitete sich Stalin mit allen Kräften auf den zu erwartenden Zusammenstoß mit Hitler-Deutschland vor. Am 1. September wurde in der Sowjetunion die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, am 26. Juni 1940 der zehnstündige Arbeitstag und die siebentägige Arbeitswoche. 1941 betrug der Anteil des Militärbudgets am sowjetischen Staatshaushalt 43 Prozent. Seit 1939 erreichte der Ausstoß der Munitionsfabriken ebenso neue Steigerungsraten wie die Rüstung insgesamt, deren Schwerpunkte bei den Panzern, der Artillerie und in der Luftrüstung lagen.

Im Sommer 1941 standen an der deutsch-sowjetischen Demarkationslinie insgesamt 61 sowjetische Panzerdivisionen bereit, während Hitlers Angriff nur 17 aufzubieten hatte. Im Juni war der sowjetische Aufmarsch zwar noch nicht vollendet, er war jedoch eindeutig auf den Angriff ausgerichtet, was nicht zuletzt durch den Abbau der eigenen Minensperren auf sowjetischer Seite deutlich wurde. 1993 hat der russische Oberst Walerij Danilow in der Österreichischen Militärischen Zeitschrift den Angriffsplan des sowjetischen Oberkommandos vom 15. Mai 1941 veröffentlicht, der lange Zeit als bloße Generalstabsplanung ohne Stalins Genehmigung abgetan worden war. In der ersten Phase sah er den großräumigen Durchstoß bis zur deutschen Ostseeküste in Ostpreußen und Pommern vor, wie es dann im Januar 1945 auch geschah.

Heute überblicken wir den Gesamtzusammenhang dieser mörderischen Konfrontation zwischen beiden totalitären Parteistaaten auf der Grundlage ihrer beiderseitigen ideologisch-militärischen Langzeitplanungen, Hitlers Lebensraum-Imperialismus und "Bodenpolitik" nach Osten und Lenins und Stalins marxistischer Revolutionsstrategie mit dem Ziel der "Befreiung" Europas von den "Ketten des Kapitalismus". Dem Sieger Stalin gelang es, seine eigenen Kriegs- und Revolutionspläne als Reaktion auf den nationalsozialistischen Angriff erscheinen zu lassen, obwohl es ihm von Anfang an darum gegangen war, "die sowjetische Machtsphäre in Europa - nach der einkalkulierten Niederlage Deutschlands - in Frontstellung gegen die USA und England bis ins Zentrum des Kontinents zu erweitern" (Andreas Hillgruber).

Der Krieg schuf die Voraussetzungen für die nachfolgenden vierzig Jahre des Ost-West-Konflikts und der deutschen Teilung. 1945 stand die Sowjetunion dort, wo ihre Führer schon 1923 zu stehen gehofft hatten, als sie im "deutschen Oktober" auf einen "nationalen Befreiungskrieg" gemeinsam mit den Deutschen gegen die westlichen Sieger setzten: an der Elbe, in der Mitte des Kontinents.

 

Prof. Dr. Klaus Hornung lehrte Politikwissenschaft an der Universität Hohenheim. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT beschrieb er zuletzt Europa als einen Kontinent, der vor existentiellen Entscheidungen stehe ("Herausforderung und Antwort", JF 20/08).

Abbildung: Der Zusammenprall: Stalin erwies sich als der überlegene Poker-Spieler: Hitler zum Angriff auf Polen provoziert, das Reich in Abhängigkeit gebracht und die Sowjetunion in die Rolle des "lachenden Dritten" versetzt.

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