© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/08 12. September 2008

Raus aus der Nische - rein in den Massenmarkt
Nachwachsende Rohstoffe: Biokunststoffe könnten angesichts hoher Öl- und Energiepreise weitere Einsatzgebiete erobern
Hans Farrnbach

Mulchfolien aus Biokunststoff, die nach der Ernte einfach untergepflügt werden und zu Kompost zerfallen. Kurzzeit-Implantate für chirurgische Eingriffe, etwa Schrauben, Klammern und Platten, die sich, sobald sie ihren Zweck erfüllt haben, auflösen und über den Stoffwechsel ausgeschieden werden. Oder "Tüten vom Acker", Verpackungsfolien aus Kartoffelstärke, kristallklare Flaschen aus Mais, Imbißgeschirr aus Biomasse: Mit diesen Produktideen haben sich Biokunststoffe in vielen Segmenten des Kunststoffmarkts schon durchgesetzt.

In Holland und Frankreich lassen Supermarktketten bereits einen Teil ihres Gemüsesortiments in "grünem" Kunststoff verpacken. Bio-Tomaten in Bio-Folien - das Prinzip "innen öko, außen öko" scheint anzukommen. Bei Verpackungen rechnet die Biokunststoffbranche mit jährlichen Zuwachsraten zwischen 30 und 40 Prozent, sagt Harald Käb, Chef von European Bioplastics in Berlin, einem europäischen Verband der einschlägigen Industrie. Viele "grüne" Jungunternehmen sind Mitglieder des Verbands, aber auch ganz Große wie BASF, Nestlé oder TetraPak.

Angesichts des weltweit rapide steigenden Kunststoffverbrauchs, der Preis­entwicklung und der zunehmenden Knappheit des zur Kunststoffherstellung bislang fast ausschließlich verwendeten Rohstoffs Erdöl ist die Suche nach Bio-Alternativen aus oder mit einem hohen Anteil an nachwachsenden Rohstoffen derzeit in vollem Gang. Teilweise wird schon im großtechnischen Maßstab produziert, etwa Bio-Folien für die Verpackungs- oder Biokunststoff-Spritzgußteile für die Autoindustrie.

Fünf Prozent des in Deutschland verbrauchten Erdöls fließen derzeit in die Kunststoffindustrie. Hauptbestandteil von Bioplastics hingegen sind nachwachsende Rohstoffe, überwiegend Stärke aus Mais, Kartoffeln oder Zuckerrüben. Die Ernte aus einem Hektar Ackerland kann ein bis zwei Tonnen Kunststoff ergeben. Ganz ölfrei sind derzeit aber die meisten Biokunststoffe noch nicht. Von Biokunststoffen spricht man meist, wenn der Anteil von nachwachsenden Rohstoffen mehr als 50 Prozent beträgt.

Bei Biokunststoffprodukten aus Polymilchsäure geht Ölanteil schon gegen Null, bei anderen bewegt er sich im zweistelligen Bereich. Zur Zeit produziert die europäische Branche 50.000 Tonnen Bioplastik jährlich. Fast die Hälfte geht in Verpackungen, der Rest überwiegend in Autoteile und Baumaterialien. Auch im Bereich des Garten- und Landschaftsbaus können Biokunststoffe durch ihren technischen Mehrwert - vor allem ihre Kompostierbarkeit - punkten.

In der Branche räumt man aber realistisch ein, daß es sich noch eine Zeitlang um ein Nischensegment handeln wird. Jörg Söhngen, Leiter eines Bio-Arbeitskreises der Kunststoffverpackungsindustrie: "Biokunststoffe machen anteilsmäßig unter ein Prozent des gesamten Kunststoffmarktes aus, noch ein sehr kleiner Bereich, aber es gibt eine deutliche Zukunftsperspektive für diese Produkte. Innovative Verpackungen auf Basis nachwachsender Rohstoffe zu entwickeln, ist die Herausforderung und die Chance für die Branche."

"Raus aus der Nische - rein in den Massenmarkt" - so lautet deswegen derzeit die Devise der ganzen Biokunststoff-Branche. Das auf Marktforschung im Bereich "Biowerkstoffe, Biokunststoffe, Holzpolymere und Naturfaserverstärkte Kunststoffe" spezialisierte Nova-Institut in Hürth hat in einer umfangreichen aktuellen Studie belegt, wie groß das Marktpotential von Biokunststoffen bereits ist und wohin es sich entwickeln kann: "Den Biokunststoffen steht schon heute ein breites und hochwertiges Anwendungsspektrum offen: Über die bereits erschlossenen Segmente des Verpackungs- und Hygienesektors hinaus werden zukünftig große Potentiale bei Tragetaschen und Lebensmittelverpackungen gesehen, obwohl hier der Wettbewerb durch etablierte Biowerkstoffe wie Pappe und Baumwolle groß ist."

Nicht nur in den in ihrer Bedeutung zunehmenden Bio-Supermärkten werden demnach alternativ und preisneutral Einkaufstüten aus Biokunststoffen angeboten, sondern auch in immer mehr Mode- und Freizeitkleidungsgeschäften. Neue Einsatzgebiete mit großem Potential sieht das Nova-Institut aber auch in dauerhaften Anwendungen im Bereich der Konsumgüter-, Möbel-, Elektro- und Elektronikindustrie sowie im Automobilbereich.

Beispiele hierfür sind Bio-Duroplaste, naturfaserverstärkte Bio-Thermoplaste, Schäume und Textilfasern. Diese Materialien sind teilweise schon als Produkte am Markt verfügbar, werden vom Kunden aber oft nicht als solche wahrgenommen. Alles in allem, so schätzt man, könnten bis zu zwanzig Prozent des derzeitigen Kunststoffverbrauchs durch Biokunststoffe gedeckt werden.

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