© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/08 12. September 2008

Lächerlich gemacht, verworfen und heute dringend vermißt
Drei Bücher widmen sich der aktuellen Sehnsucht nach Werten und ihrem Verfall nach der Kulturrevolution von 1968
Klaus Motschmann

Eine verbreitete und durch die Lebenserfahrungen immer wieder bestätigte Volksweisheit besagt, daß sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich vornehmlich von dem gesprochen wird, was man nicht hat - sei es: noch nicht oder nicht mehr.

Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Auseinandersetzung um das Thema "Werte", die neuerdings wieder sehr intensiv geführ wird. Es besteht zwar weitgehende Übereinstimmung, daß sich in den vergangenen Jahrzehnten ein radikaler Wertewandel vollzogen hat. Gleichzeitig wächst damit aber auch die Einsicht, daß ohne ein Mindestmaß gemeinsam anerkannter und verbindlicher Werte im Vollsinn des Wortes "kein Staat zu machen ist". "Verbindlichkeit" war zum Beispiel einmal ein anerkannter Wert. Man erinnert sich da und dort wieder daran, daß das Grundgesetz aufgrund der ansonsten vielzitierten Erfahrungen der Geschichte als eine betont wertgebundene Verfassung konzipiert worden ist.

Wenn davon die Rede ist, daß sich Europa als eine Wertegemeinschaft konstituieren müsse, dann sollte Klarheit darüber herrschen, welche Werte damit verbindlich gemeint sein könnten. Deshalb bemühen sich Politiker und Sozialwissenschaftler aller Richtungen, Theologen und Pädagogen, Juristen und Publizisten in allen möglichen Grundwertekommissionen, Ethikbeiräten, interdisziplinären Kongressen und interkulturellen Symposien um eine Antwort auf diese wichtige Frage.

Verlauf und Ergebnisse dieser Bemühungen bieten bislang jedoch keinen Ansatz für die Hoffnung auf eine baldige Antwort. Im Gegenteil! Der vorherrschende Tenor aller Betrachtungen auf vierzig Jahre Kulturrevolution zielt auf die Verklärung der 68er-Revolte und sorgt damit für weitere diabolische Verwirrung der öffentlichen Meinung. Es ist richtig, daß namhafte 68er und das Gros ihrer Mitläufer glaubwürdige Kritik und Selbstkritik an der 68er-Revolte geübt haben, insbesondere an der Durchsetzung vermeintlich berechtigter Gesellschaftskritik durch Gewalt. Aber warum auch heute noch Gewalt?

Günter Rohrmoser stellt in seiner jüngsten scharfsinnigen Publikation das "erstaunliche Phänomen" fest, daß ein Großteil der bürgerlichen Gesellschaft "zwar Objekt und Opfer eines Jahrzehnte lang andauernden kulturrevolutionären Prozesses ist, dies in seinen Gründen und Konsequenzen aber bis heute nicht begriffen hat".

So erklärt es sich, "daß die seit Jahrzehnten laufende und auch gegenwärtig dieses Land im Grunde genommen innerlich formierende Kulturrevolution nun von einer Regierung, in der die CDU die Mehrheit hat, in Gesetzesform gekleidet und fortgeführt wird". Und dies trotz der reichen Erfahrungen mit allen fehlgeschlagenen Utopien und Ideologien zur Behebung gesellschaftlicher Mißstände seit der Aufklärung, die Rohrmoser in gewohnter Präzision zur Vermeidung fataler Irrtümer in der Beurteilung der Kulturrevolution und ihrer andauernden Herausforderungen darstellt. Er widerspricht damit unmißverständlich dem vorherrschenden Trend, aus dem nicht zu bestreitenden Wandel der revolutionär-gewaltsamen Methoden des Kampfes gegen das "System" auf eine Absage an das strategische Ziel seiner Überwindung zu schließen. Davon kann ernsthaft keine Rede sein.

Die nach "Langen Märschen" durch die Institutionen in weiten Bereichen der Gesellschaft eroberten "Kommandohöhen" sind bislang nicht geräumt worden. Es bleibe dahingestellt, ob sie den bisherigen Kampf weiterhin aktiv unterstützen. Auf jeden Fall ist keine Bereitschaft zu einer radikalen Umkehr zu erkennen, so daß sich der Prozeß der Wertezersetzung ungehindert fortsetzen kann, wenn auch unter anderen Parolen und Schlagworten. Betroffen davon sind vor allem die wertebewahrenden Institutionen der Kirchen und der Familie. Die Ideologen wissen, daß die Moderne und Europa nur dann bestehen, wenn sich die Kirchen ihrer Verantwortung endlich wieder bewußt werden.

"Angesagt wäre als notwendiges Erstes Buße auf der ganzen Linie, zuallererst bei den Kirchen selber", so Hans Thomas in seiner überzeugenden Analyse des Verhaltens der Kirche in und zur Kulturrevolution. Er erinnert daran, daß die Kirchen, insbesondere die evangelische, in ungezählten "Worten" den ideologischen Trends der 68er nicht nur willig gefolgt sind, sondern sie auch theologisch gerechtfertigt haben. Sie sind deshalb "zu ihrem eigenen Schaden tief in die gesellschaftlichen Übel schuldhaft verflochten". Zu denken ist an Stellungnahmen zur demographischen Entwicklung Deutschlands, zum Mißbrauch des Asylrechts, zur Ausbreitung des Islamismus, zur Zunahme der Kriminalität und an die aus allem folgenden Belastungen unserer Sozialsysteme.

Die Erwartungen, daß sich diese vielfältigen Probleme in einer multikulturellen Gesellschaft auf dem Wege gesinnungsethischer Dialoge lösen ließen, haben sich inzwischen als Illusionen erwiesen. Es kommt eben nicht auf den Dialog als solchen an, sondern auf die Dialogfähigkeit, die sich vor allem in der Beachtung der politischen Realitäten und der Verteidigung der eigenen, christlich-abendländischen Wertvorstellungen erweist.

Das ganze Ausmaß der Verwüstung unseres christlich-abendländischen Wertesystems veranschaulicht Stephan Holst, Direktor des Instituts für Ethik und Werte an der Freien Theologischen Akademie Gießen, durch sehr einprägsame Begebenheiten aus dem Alltag. Er spricht damit nicht allein die Selbstbestimmungs-Ideologen in Medien, Bildungseinrichtungen und Kirchen an, sondern jeden einzelnen. Dies allerdings nicht im Sinn einer Anklage, sondern in der Absicht, Orientierungen aus dem Nebel des Zeitgeistes zu weisen. Diese Orientierung gewinnt man also nicht durch immer neue Dialoge, sondern allein durch die Rückbesinnung auf die Werte unserer christlich-abendländischen-Tradition - und den Mut zur Umkehr aus den Sackgassen säkularer Heilslehren.

Harald Seubert, Hrsg.: Günter Rohrmoser. Kulturrevolution in Deutschland. Philosophische Interpretationen der geistigen Situation unserer Zeit. Resch Verlag, Gräfeling 2008, broschiert, 278 Seiten, 24 Euro

Hans Thomas: Die multikulturelle Gesellschaft, die Kirchen und die Deutschen. Ein Zwischenruf. Pro Business Verlag, Berlin 2008, broschiert, 202 Seiten, 17,95 Euro

Stephan Holthaus: Werte. Was Deutschland wirklich braucht. Brunnen Verlag, Gießen 2008, gebunden, 127 Seiten, 12,95 Euro

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