© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/08 17. Oktober 2008

Aktenlage läßt keine Rückschlüsse zu
Quellenkritik an den jüngst präsentierten Opferzahlen der Dresdner Historikerkommission zu dem anglo-amerikanischen Bombenangriff im Februar 1945
Hans Joachim von Leesen

Rolf-Dieter Müller, Professor an der Universität Potsdam und Wissenschaftlicher Direktor am Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) der Bundeswehr, darf sich rühmen, über die Gabe des Hellsehens zu verfügen. Als er vor drei Jahren mit der Leitung einer Historikerkommission betraut wurde, die die Zahl der Luftkriegstoten in Dresden vom Februar 1945 ermitteln sollte, sagte er voraus, es seien etwa 25.000 gewesen. Jetzt präsentierte er während des 47. Deutschen Historikertages das Ergebnis der Forschungsarbeiten von 13 Damen und Herren, allesamt ausgewiesene Kenner der Luftangriffe (JF 43/08). Und siehe: Das Ergebnis lag bei 25.000 Toten.

Die Glaubwürdigkeit der Kommission war von Anfang an umstritten. Das lag vor allem an der Vorgabe, sie sollte "dem europaweit bemerkenswertesten und haltlosen Versuch einer Uminterpretation deutscher Täter in Opferschaft entgegentreten", wie der damalige Dresdner Oberbürgermeister Ingo Roßberg ihr mit auf den Weg gab. Das ließ bei Beobachtern den Verdacht aufkommen, die Kommission dürfe nicht ergebnisoffen arbeiten.

Schon bald nach der Etablierung der Kommission äußerte sich Rolf-Dieter Müller verschiedenen Zeitungen und Agenturen gegenüber, es werde immer deutlicher, daß nicht mehr als 25.000 Dresdner ums Leben gekommen seien. Und jetzt konnte er verkünden, daß die "mehrjährige interdisziplinär angelegte Arbeit in verschiedenen Projektgruppen" der Archivare, Archäologen, Historiker, Ingenieure, Siedlungsspezialisten, Verwaltungsbeamten, Museumsspezialisten und engagierten Bürger ergeben habe, es seien tatsächlich - oh, Wunder - nur diese Zahl Dresdner ums Leben gekommen. 18.000 seien nachweisbar, doch erwarte man bis Jahresende ein gewisses Anwachsen der Zahl, das aber nicht über 25.000 hinausreichen würde. Im kommenden Frühjahr soll der ausführliche Abschlußbericht erscheinen.

Es ist zu hoffen, daß dann auch eine bereits heute zu Zweifeln führende Quelle belegt wird, die sich auf Müllers Forschungsgebiet, die Verluste der Wehrmacht bei den Luftangriffen, bezieht.

Historikerkommission zitiert Quellen, die es nicht gibt

Dresden verfügte seinerzeit über eine Wehrmachtsgarnison von 16.000 Soldaten. Nach Müllers Angabe seien davon nur 100 getötet worden. Nun ist es zwar korrekt, daß die Kasernen nicht zu den angegriffenen Zielen der britischen und US-amerikanischen Bomber gehörten, doch erscheinen dennoch die Verluste als erstaunlich gering, zumal in den Tagen nach den Angriffen eine große Zahl von Wehrmachtsangehörigen abkommandiert war, in Dresden zu helfen und zu bergen. Und an diesen Tagen stürzten Ruinen um und explodierten Blindgänger.

Die Zahl von nicht mehr als 100 gefallenen Soldaten veröffentlichte Müller bereits in den Vorjahren und stieß damit auf Zweifel bei Wolfgang Schaarschmidt, der mit seinem 2005 erschienenen Buch "Dresden 1945 - Daten, Fakten, Opfer" (Herbig Verlag, München) die bis dahin umfangreichste Erhebung über die Opferzahlen vorgelegt hatte (JF 21/05), wobei er allerdings auf wesentlich höhere Verluste kam. Da sich Müller als Quelle auf die ehemalige Wehrmachtauskunftstelle, heute Deutsche Dienststelle in Berlin, berief, die "auf unsere Veranlassung hin die Zahl eruiert habe", wie er am 26. April 2006 im Rahmen eines Workshops im Hygienemuseum in Dresden ausführte, fragte Schaarschmidt bei der Dienststelle nach. Er erhielt die verblüffende Antwort, man habe Müller auf dessen Anfrage mitgeteilt, daß "die Aktenlage in unserem Haus keine Rückschlüsse auf die Zahl der Kriegssterbefälle der Wehrmachtangehörigen für den genannten Ort (Dresden) und Zeitraum (14./15. Februar 1945) zuläßt". Als Schaarschmidt nachfaßte und auf Müllers öffentliche Ausführungen verwies, wiederholte die Dienststelle, sie habe keine verläßlichen Unterlagen.

Der Vorsitzende der Historikerkommission zitierte also Quellen, die es nicht gibt. Was man davon halten soll, müßte man spätestens im Abschlußbericht der Kommission erfahren, wenn man denn die Ergebnisse der Verlustermittlungen ernst nehmen soll.

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