© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/08 24. Oktober 2008

Ungelenker Beginn einer mörderischen Strategie
Mit der "Operation Türkenkreuz" griffen Zeppeline und erste Bomber bereits während des Ersten Weltkriegs britische Städte an
Konrad Peters

Das Kriegsende 1918 besiegelte auch das Ende der jungen deutschen Luftstreitkräfte, welches später durch die Auflagen des Versailler Vertrages manifestiert wurde. Im Gegensatz zu den Entente-Mächten erkannte die deutsche Führung früh die strategische Bedeutung der Luftkriegführung. Besonders Großbritannien  sollte durch Schwerpunktangriffe auf seine Wirtschafts- und Rüstungszentren im südlichen Teil der britischen Inseln massiv geschwächt werden. Da zu Beginn des Krieges für diese Aufgabe keine leistungsfähigen Flugzeuge zur Verfügung standen, übernahmen zunächst Luftschiffe der Marine und des Heeres Bombenangriffe auf Städte in Südengland. Die britische Luftverteidigung stellte sich schnell auf die Bedrohung ein, so daß die Verluste dieser Operationen zum Abbruch im Kriegsjahr 1917 führten.

Das Deutsche Reich entwickelte seit 1915 neben den sogenannten C-Flugzeugen (einmotorige Zweisitzer für Aufklärungs- und Bombeneinsätze) auch G-Flugzeuge (zweimotorige, mehrsitzige Großflugzeuge), die nun in der Lage waren, auch größere Bombenlasten über eine lange Distanz zum Ziel zu bringen. Im Vordergrund standen die Flugzeugmuster der Firmen AEG, Friedrichshafen und vor allem der Gothaer Waggonfabriken, deren Maschinen in England bald als Synonym für den Luftkrieg galten. Deutschland gelang es erheblich früher als Großbritannien und Frankreich, Flugzeuge zum Einsatz zu bringen, die dank ihrer Leistungsfähigkeit in der Lage waren, auch strategische Angriffe zu unternehmen. Lediglich Rußland hatte es bereits 1915 geschafft, mit Maschinen des Typs "Sikorskij Ilja Mourometz" vergleichbare Maßstäbe zu setzen.

Für diese Einsatzzwecke formte die Führung der deutschen Luftstreitkräfte unter General Ernst Hoeppner seit 1915 die "Kampfgeschwader der Obersten Heeresleitung" (Kagohl), die Ende 1917 in "Bombengeschwader der Obersten Heeresleitung" (Bogohl) umbenannt wurden. Diese Verbände wurden im wesentlichen mit G-Flugzeugen ausgestattet. Die zweimotorigen Maschinen der Typen Gotha G IV und V zeichnete eine Reichweite von 840 Kilometern bei 600 Kilogramm Bombenlast aus. Zur Eröffnung der Angriffe auf Südengland stellte man 1916 unter der Führung des Hauptmanns Ernst Brandenburg das auf sechs Staffeln verstärkte "Englandgeschwader" (Kagohl 3) auf, daß seine Einsätze von küstennahen Flughäfen im besetzen Belgien startete.

Im krassen Gegensatz zum Generalstab und zur Admiralität lehnte Kaiser Wilhelm II. zu Beginn des Krieges Luftkriegsoperationen gegen englische Städte kategorisch ab. Mit dem Hinweis auf den Erhalt historischer Bauten in London und die Sicherheit seiner Verwandtschaft wurden Anfragen auf Genehmigung solcher Operationen zurückgewiesen. Es wurde nur die Erlaubnis erteilt, Anlagen der britischen Küstenverteidigung anzugreifen. Erst der weitere Verlauf des Krieges sowie die Übernahme der militärischen Führung durch die dritte Oberste Heeresleitung unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff änderten die Haltung zur Planung und Durchführung größerer Luftangriffe gegen England. Mit Einführung des "Amerikaprogramms" änderten sich auch die rüstungstechnischen Voraussetzungen, um den Ausstoß und die Leistungsfähigkeit der deutschen Rüstungsindustrie erheblich zu steigern. Mit der Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Bootkrieges im Februar 1917, der den wirtschaftlichen Zusammenbruch Großbritanniens herbeiführen sollte, wurden die strategischen Luftangriffe als ergänzende Operation zur Schwächung der Moral der britischen Bevölkerung betrachtet - ähnlich der mörderischen Strategie von Arthur Harris, des  Oberkommandierenden des Bomber Command im Zweiten Weltkrieg.

Bei den Planungen für die "Operation Türkenkreuz", die Luftangriffe des Kagohls 3 gegen südenglische Ziele, wurde in Betracht gezogen, daß der Einsatz von Luftschiffen nicht mehr in einem tragbaren Verhältnis von Erfolg und Verlusten stand. Einsätze - selbst in der Nacht -waren bedingt durch die hohe Verwundbarkeit der Luftschiffe gegenüber Abfangjägern mit einem hohen Risiko verbunden. Die neue Generation von Großflugzeugen konnte dagegen beim Einsatz vieler Maschinen erheblich größere Bombenlasten - bei einer besseren Zielerfassungstechnik - zum Angriffsziel tragen. Die von General Hoeppner vorgeschlagenen Planungen sahen bereits Einsätze zu Beginn des Jahres 1917 vor.

Produktions- und Lieferschwierigkeiten bei den Gotha G-Flugzeugmustern führten jedoch dazu, daß der erste Einsatz erst am 25. Mai 1917 geflogen werden konnte. Von 23 gestarteten Maschinen erreichten 21 Südengland. Die Wetterbedingungen zwangen die Formation, statt London Ausweichziele bei Folkestone und Shorncliff anzugreifen. Schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung (95 Tote und 195 Verwundete) und die weiträumige Bombardierung städtischer Bauten und Hafenanlagen bestärkten die Befürworter eines massiven Ausbaus der britischen Luftverteidigung. Erst der dritte Gotha-Angriff am 13. Juni 1917 traf die britische Hauptstadt mit voller Härte. Keinem britischen Abfangjäger gelang es, rechtzeitig die Höhe der deutschen Bomber zu erreichen, so daß dieser Angriff in geschlossener Formation ohne jegliche Verluste abgeschlossen werden konnte. Die Verluste unter der Zivilbevölkerung (manche Tote fielen auch herabfallenden Flakgeschossen zum Opfer) und die Zerstörungen im Stadtgebiet führten zu scharfen Angriffen britischer Zeitungen gegen die Regierung und zu großer Unruhe bei der Londoner Bevölkerung.

Die Verstärkung der britischen Luftverteidigung machte es erforderlich, daß weitere Angriffe ab September 1917 nur nachts geflogen werden konnten. Am 19. Mai 1918 wurde der letzte und größte Angriff gegen die britische Hauptstadt geflogen. Neben 38 Gotha-Bombern beteiligten sich auch die Riesenflugzeugabteilung 501 mit drei Maschinen und zwei einmotorige Flugzeuge. Die beträchtlichen deutschen Verluste mit sechs Abschüssen und sieben Totalschäden bei Landung auf dem Heimatflughafen führten zur Einstellung der "Operation Türkenkreuz".

Insgesamt wurden 52 Einsätze gegen Ziele in Südengland geflogen. Für sich genommen blieben die Erfolge deutlich hinter den gesetzten Erwartungen zurück. Dies lag weniger an den technischen Erfordernissen, sondern vor allem an der schwachen Schlagkraft der eingesetzten Verbände. Mangels entsprechender Produktionsleistung für Flugmotoren konnten geplante Angriffe mit mehr als einhundert Maschinen zu keiner Zeit durchgeführt werden. Andererseits brachte die deutsche Kriegführung mit Langstreckenbombern verschiedene technische Fortschritte im Bereich der Motorenentwicklung für große Höhen, der Navigation im Formationsflug bei Tag und Nacht sowie die Einführung präziserer Zielgeräte und flugstabilisierter Bomben. Von herausragender Bedeutung war jedoch die Verstärkung der britischen Luftverteidigung durch etliche Jagdstaffeln und Flakeinheiten, die von der Westfront abgezogen werden mußten. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als die deutsche Seite sich auf die große Frühjahrsoffensive "Unternehmen Michael" vorbereitete. In der angelsächsischen Militärgeschichtsschreibung (Fischer, Cooksley, Hanson) wird die Bedeutung der deutschen strategischen Luftkriegführung 1914/18 objektiv gewürdigt.

Foto: Foto von der Brücke eines Luftschiffs auf angreifende britische Jäger während eines Angriffs auf London 1917: Beträchtliche deutsche Verluste führten im Mai 1918 zur Einstellung des Bombenkriegs

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